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- 503 - Der lange Kampf gegen die Vergewaltigungskultur in Indien
Vergewaltigt und ermordet – der Fall einer jungen Ärztin in Kolkata erschütterte diesen Sommer die indische Öffentlichkeit. Trotz monatelanger Demonstrationen ist der Fall noch immer nicht aufgeklärt. Es ist kein Einzelfall: Im patriarchalen Indien grassiert eine wahre Vergewaltigungs-Epidemie. Fast 90 Frauen werden in Indien jeden Tag vergewaltigt, oft von Gruppen, oft besonders brutal. Und das sei nur die Spitze des Eisbergs, sagen Expertinnen. Viele Fälle würden in Indien gar nicht erst angezeigt: Aus Scham, aus Angst vor den Tätern oder mangelndem Vertrauern in die polizeilichen Ermittlungen. Den Grund für die hohe Zahl von Vergewaltigungen sehen viele im indischen Gesellschaftssystem, das Männer traditionell höher wertet als Frauen. Schuld sei das patriarchalische System, sagt eine Demonstrantin in Kolkata. Schärfere Gesetze bis hin zur Todesstrafe für die Täter haben den Anstieg der Vergewaltigungen nicht verhindern können. «Um die Vergewaltigungskultur zu bekämpfen, muss man auch die Mikro-Aggressionen bekämpfen, den Frauenhass, den Alltagssexismus», sagt der Sozialaktivist Harish Sadani. Er und sein Team setzen auf Sensibilisierung in Schulen. Während die frühere Regierungsangestellte und Aktivistin Yogita Bhayana sich für politische Reformen einsetzt, etwa für höhere Frauenquoten in der Politik und bei der Polizei. Doch allen ist klar: Der Kampf gegen die Vergewaltigungskultur wird noch länger dauern.
Fri, 29 Nov 2024 - 502 - Unter Druck – Die Ukraine mit dem Rücken zur Wand
Nach über tausend Tagen Krieg sind die Menschen in der Ukraine zermürbt. Sie wollen ein Ende des Krieges, aber kein Ende, das es Russland erlaubt, in wenigen Jahren die Ukraine erneut anzugreifen. Der ukrainischen Armee fehlt es an Soldaten, Waffen, Munition. Und es fehlt an einer klaren Strategie des Westens. Was ein US-Präsident Trump für die Ukraine bedeutet, weiss niemand. Wie zuverlässig Deutschland und Westeuropa hinter der Ukraine stehen, ist zweifelhaft. Unter dem steigenden Druck spricht auch die ukrainische Führung öffentlich über mögliche Verhandlungen mit Russland. Aber welche Chancen auf einen gerechten Frieden gibt es? Und wie empfinden die Menschen in der Ukraine diese Debatten? «Es verunsichert mich, und es tut weh, dass abgesehen von Slogans und schönen Worten wenig Taten folgen», sagt die Ukrainerin Ljudmyla Hotytsch. «Wir wollen den Krieg hier und jetzt beenden. Gebt uns die Mittel dafür. Ihr reicht uns eine Hand und fesselt die andere. So werden wir langsam sterben».
Fri, 22 Nov 2024 - 501 - Baden verboten! Wie Englands Flüsse zu Abwasserkanälen wurden
In Grossbritannien ist die Wasserversorgung keine öffentliche Dienstleistung, sondern ein privates Geschäft. Vor mehr als 30 Jahren verkaufte die Regierung die Wasserwerke. Dies hatte Folgen. Wasser wurde teuer, und Flüsse wurden schmutzig. Tausende Britinnen und Briten strömten Anfang November nach London. Viele waren blau gekleidet und trugen Plakate mit Botschaften wie «Cut the crap!» oder «Voters against Floaters». Übersetzt heisst das so ungefähr: «Hört auf mit dem Sch…», und «Wähler gegen schwimmende Exkremente». Es war eine Grossdemonstration gegen die Verschmutzung der britischen Gewässer und Küsten. Ein Problem, das eng mit der Privatisierung der Wasserversorgung verknüpft ist. Premierministerin Margaret Thatcher hatte sie 1989 vorangetrieben, um die Staatskasse zu entlasten. Private Investoren würden das völlig veraltete Kanalisationssystem schon sanieren, und zwar mindestens ebenso gut wie der Staat, lautete ihre Botschaft. Thatcher hatte sich verrechnet. Die Investitionen blieben aus. Das Kanalisations-System ist mittlerweile noch älter, und die privaten Wasserwerke leiten jedes Jahr riesige Mengen ungeklärtes Abwasser in Bäche und Flüsse. Mit der Folge, dass Baden in englischen Gewässern nicht erfrischt, sondern krank macht. Eine Reportage über die unappetitlichen Folgen der Privatisierung der Wasserversorgung in Grossbritannien.
Fri, 15 Nov 2024 - 500 - Grauzone: Was Russland in Afrika sucht
Es geht um Rohstoffe, Rüstungsdeals und internationale Anerkennung. Im Schatten des Ukrainekriegs hat Russland seinen Einfluss in vielen afrikanischen Staaten ausgeweitet. Russische Paramilitärs spielen dabei eine Schlüsselrolle, wie das Beispiel Mali zeigt. «Wir wissen, dass die Russen heute die wichtigsten Partner der malischen Armee sind», sagt ein Goldhändler der Tuareg in der nordmalischen Stadt Gao. Man erkenne die russischen Kämpfer leicht an ihren Uniformen und Abzeichen und daran, dass die wenigsten Französisch sprächen. Der Kreml hat im letzten Jahrzehnt mit 43 afrikanischen Staaten Militärabkommen geschlossen. Er profitierte dabei vom schlechten Ruf des Westens. In unsicheren Sahelstaaten wie Mali ist die Verbitterung insbesondere gegenüber Frankreich gross. Russland inszeniert sich in Afrika gern als Gegenentwurf zu den alten Kolonialmächten. Doch selbstlos ist das russische Engagement nicht. Auch ist es begleitet vom Vorwurf schwerer Menschenrechtsverletzungen. Besonders im Fokus: die «Wagner»-Gruppe. Jewgeni Prigoschin, der berüchtigte Anführer dieser russischen Söldnertruppe, kam 2023 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, kurz nach seiner Rebellion gegen die russische Regierung. Der Kreml hat Prigoschins Imperium im Afrika seither direkt übernommen.
Sat, 09 Nov 2024 - 499 - Israel – Wer stoppt den Krieg?
Der Krieg im Nahen Osten dauert seit mehr als einem Jahr, Zehntausende sind getötet, Millionen vertrieben worden, im Gazastreifen, im Westjordanland, in Libanon. Israel will den «totalen Sieg» über islamistische Terrorgruppen, um jeden Preis. Wer gegen diesen Krieg ist, hat es schwer. Jede Woche demonstrieren in Israel Tausende: für die Freilassung der Geiseln, welche die extremistische Hamas vor mehr als einem Jahr in den Gazastreifen verschleppte, gegen die Regierung, welche die Geiseln in ihren Augen im Stich lässt. Anti-Kriegsdemonstrationen sind das jedoch nicht. Der eigene Schmerz blendet das Leiden der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und in Libanon fast komplett aus. «Wir klammern uns an die Hoffnung, dass die Geiseln zurückkehren können. Erst danach können wir hoffen, dass aus den Trümmern etwas Besseres entsteht. Aber zuerst müssen die Geiseln zurückkommen», sagt die 30-jährige Adi, eine ehemalige Späherin der israelischen Armee. Die sogenannten «Tatzpitaniyot», die jungen Soldatinnen, die auf ihren Beobachtungsposten vergeblich vor einem Hamas-Angriff gewarnt hatten, waren unter den ersten Opfern der Hamas. Mai Albini Peri, 29, ist der Enkel des von der Hamas entführten und getöteten Friedensaktivisten Chaim Peri. Der grausame Tod seines Grossvaters hindert ihn nicht daran, gegen den Krieg seiner Regierung zu kämpfen. Im Gegenteil: sein Grossvater habe immer gesagt, Israels Besatzung des palästinensischen Volkes führe ins Verderben. «Wir können im Gazastreifen nicht so weitermachen wie im vergangenen Jahr und behaupten: «Wir verteidigen uns nur!». Hättet ihr uns am 7. Oktober verteidigt! Dann wäre mein Grossvater noch am Leben. Was wir jetzt machen, hat mit Verteidigung nichts zu tun: das ist nur Rache», sagt der jüdische Israeli. Es gibt in Israel und den palästinensischen Gebieten Menschen, welche diesen Krieg dringend stoppen wollen. Aber wie? «Dieser Krieg ist nicht wie andere Kriege. Wenn sie ihn nicht beenden, nehmen wir die Auslöschung eines anderen Volkes in Kauf. Einfach beenden können wir den Krieg aber nicht: dafür braucht es eine politische Vision», sagt Rula Hardal. Sie ist eine der beiden israelischen Frauen, welche die gemeinsame israelische und palästinensische Organisation «A land for all» leitet, die sich für eine Zweistaatenlösung einsetzt. Wer stoppt den Krieg und wie? Eine Reportage aus Israel und dem Westjordanland.
Sat, 02 Nov 2024 - 498 - Japan kämpft gegen die Epidemie des einsamen Todes
Japanerinnen und Japaner werden immer älter. Und häufig auch einsamer. So sterben immer mehr Menschen allein in ihrer Wohnung, ohne Angehörige, Freundinnen oder Freunde. Nun sucht Japan neue Wege im Kampf gegen den einsamen Tod. Es mag etwas gruselig anmuten: Im Sozialamt der Yokosuka gibt es eine Abstellkammer, in der fein säuberlich aufgereiht rund 150 Behälter stehen. «In jedem Behälter befindet sich eine Urne mit Asche und Knochenstücken, die nicht abgeholt worden ist», erklärt ein Gemeindeangestellter. Die nicht abgeholten Urnen stehen für ein Phänomen, das in Japan zunehmend zum Problem wird: Menschen, die im Alter vereinsamen. Wenn sie sterben, wird ihr Tod häufig erst sehr spät entdeckt. Japan versucht mit verschiedenen Ansätzen, das Problem des einsamen Todes zu entschärfen. Gemeinden etwa unterstützen Seniorinnen und Senioren dabei, im Voraus zu regeln, wie und wo sie bestattet werden sollen. Agenturen oder Vereine helfen den älteren Menschen, soziale Kontakte für den letzten Lebensabschnitt zu knüpfen.
Sat, 26 Oct 2024 - 497 - Uruguay: Das Land der Ungläubigen
Uruguay geht konsequent seinen eigenen Weg. Als laizistisches Land hat es die Religion aus dem Staat entfernt. Dies hat Folgen, die tief in Politik und Gesellschaft spürbar sind – und Uruguay so in vielerlei Hinsicht zu einem Sonderfall machen. Lateinamerika ist grossmehrheitlich katholisch geprägt. Manchenorts haben evangelikale christliche Bewegungen einen grossen Zulauf. Das Wort des Pfarrers hat bei vielen ein grosses Gewicht. Der Einfluss der Kirche auf die Politik ist dementsprechend gross. In Uruguay ist der Laizismus dagegen seit über hundert Jahren per Verfassung festgeschrieben. Das Land liess sich dabei von Frankreich inspirieren. Als Folge davon ist Uruguay das am wenigsten religiöse Land auf dem gesamten amerikanischen Kontinent. Die Folgen sind überall spürbar. Weihnachten gibt es offiziell nicht. Der Feiertag heisst hier «Fest der Familie». Kirchenräume werden vom Staat für soziale Einrichtungen genutzt. Und in gesellschaftspolitischen Fragen ist das Land progressiver als die Nachbarn. Der Sonderfall äussert sich aber auch in den politischen Debatten: Diese gehen hierzulande gesitteter zu und her. Die politische Landschaft ist weniger gespalten als im Rest Lateinamerikas. Und auch der Nationalismus ist weniger ausgeprägt, wenngleich die Uruguayer und Uruguayerinnen stolz sind auf ihr Land.
Sat, 19 Oct 2024 - 496 - Grönland: Indigene Macht in der Arktis
Die grösste Insel der Welt war lange Spielball fremder Interessen. Dänemark kolonisierte das Inuit-Volk, die USA errichteten Militärstützpunkte. Nun aber ist Grönland unterwegs in die Unabhängigkeit: mittels Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur und einer selbstbewussten Aussenpolitik. Zwei Asphaltpisten machen Grönlands Zeitenwende deutlich: der Flugplatz im abgelegenen Narsarsuaq, zu Beginn der 1940-Jahre von den Amerikanern gebaut, steht vor der Schliessung. 500 Kilometer nordwestlich, in der boomenden Hauptstadt Nuuk, eröffnet Ende November der neue internationale Flughafen des aufstrebenden Landes. Mit der Neuausrichtung des Flugverkehrs vollzieht Grönland auch eine aussenpolitische Neuorientierung. Es geht zunehmend auf Distanz zur früheren Kolonialmacht Dänemark. Stattdessen sucht die Regierung in Nuuk die Nähe zu den direkten Nachbarn im Westen, im kanadischen Nunavut. Nach isländischem Vorbild möchte Grönland zu einem Hub zwischen Europa und Amerika werden. Grönlands Weg zur indigenen Macht in der Arktis ist jedoch voller Hürden: dazu gehört die spannungsgeladene Geopolitik im hohen Norden, aber auch der gesellschaftliche Zusammenhalt des sehr kleinen und über eine riesige Fläche verteilten Volkes zwischen Tradition und Moderne. Wirtschaftlich sucht Grönland künftig sein Glück im Tourismus und Bergbau, und begibt sich auf eine herausfordernde Gratwanderung zwischen Nachhaltigkeit und internationalen Begehrlichkeiten.
Sat, 12 Oct 2024 - 495 - Gewalt im «Tiefen Süden» – Thailands vergessener Konflikt
Palmenstrand, exotische Tempel und lächelnde Menschen. Thailand gehört zu den beliebtesten Ferienzielen der Schweizerinnen und Schweizer. Was viele nicht wissen: Ganz im Süden des Landes kämpfen seit Jahrzehnten Rebellen für einen eigenen Staat und schrecken dabei auch vor Anschlägen nicht zurück. Mehr als sieben Tausend Menschen sind in den vergangenen zwanzig Jahren bei den blutigen Auseinandersetzungen ums Leben gekommen. Es ist ein Konflikt zwischen malaiischen Aufständischen und der thailändischen Staatsmacht. Im sogenannt "tiefen Süden" Thailands gehört die muslimische Ethnie der Malaien zur Bevölkerungsmehrheit. Ganz anders als im Rest Thailands, das überwiegend buddhistisch geprägt ist. Viele der malaiischen Muslime fühlen sich politisch und kulturell vom Zentralstaat bevormundet. Gleichzeitig hat die thailändische Regierung die Region während Jahren wirtschaftlich vernachlässigt. Sie gehört heute zu den ärmsten Gegenden des Landes. Seit Jahrzehnten kämpfen verschieden Separatistengruppen für eine Unabhängigkeit vom Zentralstaat. Der thailändische Staat wiederum hat eine grosse Militär- und Polizeipräsenz im Gebiet aufgebaut. Den Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen – sie sind im «tiefen Süden» jedoch weitgehend immun vor einer Strafverfolgung. Es ist ein komplizierter und langwieriger Konflikt, der von der Welt vergessen wurde. Ein Konflikt, der tiefe Gräben in der Bevölkerung hinterlassen hat.
Sat, 05 Oct 2024 - 494 - Der Schatten der Schwarzarbeit über Italiens Landwirtschaft
In der Schweiz und in ganz Europa kommt viel Italienisches auf die Teller. Doch die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Früchte und Gemüse ernten, haben oft weder Aufenthaltsbewilligung noch Arbeitsvertrag. Italiens Regierungen versprechen regelmässig Abhilfe, tatsächlich aber ändert sich wenig. Kurz vor den Sommerferien rüttelte ein schwerer Arbeitsunfall ganz Italien auf. Ein aus Indien stammender Feldarbeiter starb, nachdem ihm eine Maschine einen Arm abgetrennt hatte. Der Schwerverletzte wurde von seinem Arbeitgeber nicht in ein Spital gebracht. Denn er war nicht krankenversichert und verfügte auch über keinen Arbeitsvertrag. Gemäss Schätzungen arbeiten in Italiens Landwirtschaft rund 400'000 Angestellte schwarz. Das Problem ist bekannt und noch jede Regierung hat bisher versprochen, das Übel endlich anzugehen. Doch passiert ist wenig. Denn es profitieren viele von der Ausbeutung der Arbeitskräfte: Landwirtschaftsbetriebe, die tiefe Löhne zahlen. Grossverteiler, die billig Früchte und Gemüse einkaufen. Konsumentinnen und Konsumenten in ganz Europa, die günstig einkaufen können. Und Längst hat auch das organisierte Verbrechen seine Finger im Milliardengeschäft. Ein Augenschein in der Pontinischen Ebene südlich von Rom - einem der landwirtschaftlichen Zentren Italiens.
Sat, 28 Sep 2024 - 493 - Gefährdete Demokratie in Kuwait
Darauf war Kuwait immer stolz: Als einziges Land am arabischen Golf war Kuwait in Ansätzen demokratisch. Das frei gewählte Parlament gilt als eines der mächtigsten im ganzen Nahen Osten. Oder besser: Galt. Denn vor wenigen Monaten hat der Emir das Parlament aufgelöst. Kuwait ist eines der reichsten Länder der Welt. Und trotzdem rückständig. Vetternwirtschaft, Korruption, ein aufgeblähter Staat und endlose politische Querelen sind die Gründe. Neidvoll schauen kuwaitische Unternehmer wie Khaled al-Khaled nach Abu Dhabi, Katar oder Saudi-Arabien. Sie fühlen sich abgehängt. Schuld daran sei die Demokratie, sagt al-Khaled: «Wie viele Menschen haben auf einem Schiff das Sagen: Ein Kapitän oder zehn?» Seit 1962 garantiert die Verfassung Kuwaits freie Parlamentswahlen. Und meistens fanden sie auch statt. Die Erbmonarchie und das Parlament teilten sich die Macht, doch das Nebeneinander funktioniert in der Praxis immer weniger. Im vergangenen Mai hat der Emir das Parlament für vier Jahre aufgelöst, und das Land ist zu einer Autokratie geworden. Kuwait ist ein kleines Land, aber einer der wichtigsten Ölexporteure der Welt. Was in Kuwait, geschieht, ist strategisch von Bedeutung.
Sat, 21 Sep 2024 - 492 - USA: Wie die Republikaner demokratiemüde wurden
Es war ein beispielloser Angriff auf die Demokratie: Vor vier Jahren weigerte sich Donald Trump, seine Wahlniederlage anzuerkennen. Trotz dieser Lüge und dem Sturm aufs Kapitol nominierte ihn die republikanische Partei zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidaten. Was ist da geschehen? «Trump kicks ass» steht auf Sharon Andersons Hut – «Trump ist ein harter Kerl», heisst das im übertragenen Sinn. Anderson ist Trump-Anhängerin der ersten Stunde, und sie würde ihn wählen, selbst wenn er im Gefängnis sässe. Für Anderson ist klar: Trump hat die bedeutendste politische Bewegung aller Zeiten geschaffen. Seit der Immobilienmakler und TV-Star in die US-Politik eingestiegen ist und 2016 zum Präsidenten gewählt wurde, dominiert er die Schlagzeilen. Und die republikanische Partei. Manche Beobachter glaubten, nach dem gewaltsamen Ansturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol würde sich das republikanische Establishment von ihm abwenden. Zu plump schien seine x-fach wiederholte und x-fach widerlegte Lüge vom gestohlenen Wahlsieg, zu krude waren seine Angriffe auf den demokratischen Wahlprozess. Doch das Gegenteil geschah: Er schloss die Reihen hinter sich. Wie kam es dazu, dass sich so viele Parteigängerinnen und Parteigänger von den traditionellen konservativen Werten eines Ronald Reagan abwendeten und die republikanische Partei ganz zur Partei Trumps wurde?
Sat, 14 Sep 2024 - 491 - Dem Krieg trotzen: Das Sarajevo Filmfestival als Spiegel Bosniens
Das Sarajevo Filmfestival ist das grösste Filmfestival in Südosteuropa. Dies allein ist bemerkenswert. Denn entstanden ist das Festival mitten im Bosnienkrieg, während der jahrelangen Belagerung Sarajevos. Aufgrund dieser Geschichte will das Festival mehr sein als ein reines Filmfestival. Selbst von den grausamen Folgen von Krieg und Nationalismus betroffen, hat sich das Filmfestival neben einer kulturellen auch eine aufklärerische und politische Mission gesetzt. Es versteht sich als Ort des Austausches, als Ort, der den Dialog über Landesgrenzen hinweg in der gesamten Region fördert. Gerade jetzt, wo weltweit die Spannungen wieder zunehmen und auch auf dem Balkan die Rhetorik aggressiver wird, ist dieser Ansatz so aktuell wie lange nicht. Davon ist der Festivaldirektor Jovan Marjanovic überzeugt. Doch nicht nur am Filmfestival, in ganz Bosnien Herzegowina sind die Folgen des Krieges weiterhin überall spürbar. Das Land ist weiterhin gespalten zwischen den einzelnen Volksgruppen. Bosnien ist geografisch und politisch aufgeteilt zwischen muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben. Die meisten Parteien sind ethnisch definiert und verstehen sich als Verteidiger ihrer jeweiligen Volksgruppen. Dabei haben sich die Politiker aller Seiten längst ein Klientelsystem aufgebaut, das einzig ihrem Machterhalt dient. Die Situation scheint zerfahren. Viele verlassen daher das Land und suchen ihr Glück anderswo. Das Filmfestival gab den Bewohnerinnen und Bewohner Sarajevos in den dunkelsten Stunden der Stadtgeschichte Halt. Und es bietet noch immer jenen Hoffnung, die auf Dialog und Verständigung setzen. Es nimmt damit eine Gegenposition ein in einer Region, in welcher der Nationalismus zuletzt in vielen Ländern wieder stärker wurde.
Sat, 07 Sep 2024 - 490 - Mongolei – im Würgegriff von Russland und China?
Die Mongolei ist eingezwängt zwischen China und Russland und wirtschaftlich abhängig von den beiden autoritären Nachbarn. Doch die junge Demokratie will sich emanzipieren. Sie sucht nach neuen «Nachbarn» und hofft sogar auf spirituelle Kräfte. Die chinesische Führung sah rot, als 2016 im wichtigsten buddhistischen Kloster der Mongolei Babys zu krabbeln begannen. Es ging bei dem Ritual darum, den höchsten buddhistischen Würdenträger für die Mongolei zu finden - einen spirituellen Führer, der sich der Kontrolle Chinas entzieht. Als der religiöse Würdenträger gefunden war und der Dalai Lama dafür anreiste, belegte China den Nachbarstaat kurzerhand mit Wirtschaftssanktionen. Bis heute greift die asiatische Grossmacht zum Mittel der Erpressung und öffnet oder schliesst die Grenzen zur Mongolei je nach Grad der Verstimmung. Doch abhängig ist die Mongolei auch von Russland, dem zweiten Nachbarn. Wenn Russland die Energieversorgung drosselt, gehen in der Mongolei die Lichter aus. Aber die junge Demokratie möchte sich aus den Zwängen ihrer geographischen Lage befreien – sie hält Ausschau nach politischen und wirtschaftlichen Partnern anderswo in der Welt. Wie weit sie damit kommt – dazu die Reportage aus Ulaanbaatar.
Sat, 31 Aug 2024 - 489 - Irak baut an der Schnellstrasse zum Aufschwung
Nach Jahrzehnten mit Kriegen und Zerstörung, glauben im Irak heute viele Menschen an eine bessere Zukunft. Ihre Hoffnungen liegen auch auf einem riesigen Bauprojekt. Der Plan ist ehrgeizig: Eine internationale Verbindungsstrasse soll künftig vom persischen Golf mitten durch den Irak bis in die Türkei und nach Europa führen. Eine Strasse, die einerseits Teil der neuen chinesischen Seidenstrasse sein soll, andererseits aber auch den Handel im Land selbst ankurbeln soll. «Mit der neuen Entwicklungsstrasse ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die irakische Wirtschaft wieder als heller Stern in der Region erstrahlen kann», sagt Rawan Al-Zaidi, eine junge Unternehmerin aus Bagdad. Viele im Land teilen ihren Optimismus. Doch damit es so weit kommt, reicht es nicht, eine grosse Strasse zu bauen. Das Land muss weitere Herausforderungen bewältigen: Die grassierende Korruption bekämpfen. Oder auch sich mit der kurdischen Bevölkerung im Norden des Landes versöhnen. Irak und die Hoffnung auf den Aufschwung: Eine Reportage quer durchs Land.
Sat, 24 Aug 2024 - 488 - Bis nichts mehr zu holen ist: Betrugsfabriken in Südostasien
Eine Online-Bekanntschaft, schöne Gefühle. Und am Ende: kein Geld mehr. Weltweit werden Menschen von Betrügern um ihr ganzes Geld gebracht. Diese agieren zum Beispiel aus Südostasien, wo in den letzten Jahren diverse sogenannte Betrugsfabriken entstanden sind. Und wo Täter manchmal auch Opfer sind. Die Bezeichnung klingt martialisch: «Schweine schlachten». Im Betrügerjargon heisst das nichts anderes als: jemanden derart ausnehmen, ja ausweiden, bis kein Geld mehr zu holen ist. Das geschieht zum Beispiel über gefälschte Profile auf Dating-Plattformen, durch vorgetäuschte Interessen und Gefühle. Mit Hilfe perfider Techniken. Die Betrüger brauchen dazu nicht viel: in erster Linie Strom und Internet. Und ein Umfeld, das nicht so genau hinschaut, zum Beispiel in Staaten mit schwachen Institutionen und einem ausreichenden Mass an Korruption. Staaten wie Kambodscha, Laos oder auch Myanmar. In diesen Ländern sind in den letzten Jahren Industriegebiete und sogar Sonderwirtschaftszonen entstanden, die unter der Kontrolle zwielichtiger Gestalten aus China stehen. Von dort aus – aus gut ausgerüsteten Gebäudekomplexen – werden Menschen aus aller Welt belogen und betrogen. Einige Betrüger verrichten ihre Arbeit freiwillig. Andere werden jedoch dazu gezwungen und sind selbst Opfer der Betrugsindustrie.
Sat, 17 Aug 2024 - 487 - «Best of»: Südafrika: Die Regenbogennation am Scheideweg
Nach dem Ende der Apartheid hoffte die Schwarze Bevölkerung Südafrikas auf ein besseres Leben. Doch nach 30 Jahren Dauerherrschaft der einstigen Freiheitsbewegung ANC stehen gerade die, die von der ANC-Politik mit profitiert haben, vor der Frage, was zählt mehr: Die Vergangenheit oder die Gegenwart? Es war 1994, als Südafrika die Wahl von Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes bejubelte. Seither bestimmt dessen ANC, der African National Congress, die Politik des Landes. Er schaffte die diskriminierenden Gesetze ab, die die schwarze Bevölkerungsmehrheit während Jahrzehnten zu Menschen zweiter Klasse degradiert hatten. Schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner wurden gezielt gefördert, etwa in der Wirtschaft oder beim Staat. Historische Ungerechtigkeiten sollten überwunden werden. Seither ist jener Teil der Gesellschaft gewachsen, der sich aus der Armut hat befreien können: Die Schwarze Mittelschicht. Es sind Menschen wie Selina, Thapama und Pearl aus Soweto – südwestlich von Johannesburg - einst eine Hochburg des Widerstands gegen das weisse Apartheid-Regime. Alle drei sind vorangekommen im Leben. Und hadern doch mit dem Zustand ihres Landes. Korruption auf allen politischen Ebenen, hohe Kriminalität, grosse Arbeitslosigkeit - es läuft heute vieles schief in Südafrika. Der Alltag mit wiederkehrenden Ausfällen von Strom und Wasser ist bisweilen eine Zumutung. Und manchmal auch eine existenzielle Gefahr. Jetzt steht das Land erneut vor einer richtungsweisenden Wahl. Bei den Parlamentswahlen vom 29. Mai könnte der ANC zum ersten Mal seit 30 Jahren auf nationaler Ebene seine absolute Mehrheit verlieren. Und gerade Menschen wie Pearl, Thapama, Selina und viele aus dem Schwarzen Mittelstand, müssen sich fragen: Was zählt mehr: Die Vergangenheit? Oder die Gegenwart? (Erstausstrahlung: 25. Mai 2024)
Sat, 10 Aug 2024 - 486 - «Best of»: Born to be Opfer? Nein! sagen engagierte Wendekinder
1989 waren sie klein, doch auch ihre Welt war ins Wanken geraten. Manche haben gelitten unter der rechten Gewalt der 90-er Jahre, andere genossen die Freiheit des rechtsfreien Raums. Heute teilen sie die Lust, ihre ostdeutsche Heimat zu gestalten und dem verbreiteten Frust etwas entgegenzusetzen. «Die meisten von uns waren so drauf: Wir machen es einfach selbst» sagt Patrick Hinz. «Das Coole war, dass es hier den Raum dafür gibt». Hinz leitet in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern eine Lokalzeitung. Dort deckt er mutig rechte Strukturen auf. Die Zeitung will zugleich zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen, denn «es gibt so viele, so gute Leute hier». Nadine Förster ist wie er in den 80-er Jahren in der DDR geboren und in der chaotischen Umbruchszeit gross geworden. Das selbsternannte «Inselkind» von Rügen tat, was ihre Eltern nicht durften: Sie bereiste die Welt und erkannte, wie einmalig ihre Heimat an der Ostsee ist. Jetzt kämpft sie als Lokalpolitikerin gegen den Ausverkauf ihres Dorfs. Auch Anna Stiede führt einen Kampf – es ist oft einer gegen das eigene Trauma der Vergangenheit. Ihre Jugend in den 90-er Jahren in Thüringen war umgeben von grauer Tristesse, Arbeitslosigkeit und rechter Gewalt. «Ich weiss selber, dass ich einen Schaden davongetragen habe». Sie verarbeitet den Wendeschmerz in Kunstprojekten. Janine Herntier schliesslich haute ab aus der düsteren brandenburgischen Provinz. Doch das Herz war stärker – jetzt ist sie mit ihrer Familie zurück. (Erstausstrahlung: 11. Mai 2024)
Sat, 03 Aug 2024 - 485 - «Best of»: Pharaonische Krise in Ägypten
Seit gut zehn Jahren regiert der ehemalige General Abdel Fatah Al Sisi. Er stützt sich auf die Armee, die immer tiefer in die Wirtschaft verstrickt ist. Das bevölkerungsreichste arabische Land soll mit pharaonischen Bauprojekten in die Zukunft katapultiert werden. Doch die Armut steigt. Schnellstrassen, Metrolinien, eine gigantische neue Verwaltungshauptstadt mitten in der Wüste - die Projekte reissen gewaltige Löcher in die Staatskasse. Ägypten hängt am Tropf ausländischer Kreditgeber. Besserung ist nicht in Sicht. Staatspräsident Sisi schwört sein Land mit bizarren Vergleichen auf immer härtere Durststrecken ein: "Bei Gott, wenn der Preis für Fortschritt und Wohlstand der Nation darin besteht, hungrig und durstig zu sein, dann lasst uns weder essen noch trinken." Doch ob die Investitionen in die Infrastruktur und die milliardenverschlingenden Prestigeprojekte der Bevölkerung dereinst bessere Lebensperspektiven bringen, wird von Fachleuten in Frage gestellt. Bis jetzt profitiert vor allem die Armee: sie ist zum wichtigsten Akteur in der ägyptischen Wirtschaft aufgestiegen. Die Reportage aus Kairo und aus dem Nil-Delta. (Erstausstrahlung: 24. Februar 2024)
Sat, 27 Jul 2024 - 484 - «Best of»: Sri Lanka kommt nicht zur Ruhe
Schon Jahrzehnte dauert der Konflikt zwischen den tamilischen und singhalesischen Volksgruppen in Sri Lanka an. Der blutige Bürgerkrieg endete vor 15 Jahren, doch die Narben sind nicht verheilt, Kriegsverbrechen wurden nicht aufgeklärt, noch bleiben viele Tamilinnen und Tamilen vermisst. Jogarasa Kanakarangini hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Seit Mai 2009 wartet die 64-jährige Tamilin darauf, ihren Sohn Amalan wieder in die Arme zu schliessen. Amalan hatte im Bürgerkrieg mit den Tamil Tigers für einen separaten Tamilen-Staat gekämpft und sich direkt nach der Niederlage ergeben. Das damalige Versprechen, ihn und die vielen anderen zu rehabilitieren, hat die Regierung bis heute nicht eingelöst. Die tamilischen Gefallenen und Vermissten sind in den Augen der singhalesisch-dominierten Regierung Sri Lankas schlicht Terroristen, die einen tödlichen Unabhängigkeitskampf gegen den rechtmässigen Staat geführt hätten. Die separatistische Gefahr sei noch immer nicht gebannt, die Unterdrückung der tamilischen Minderheit daher gerechtfertigt. Angehörige der Vermissten, wie Jogarasa Kanakarangini, plädieren dagegen für Aufklärung und Gerechtigkeit. Fünf Mal sei sie schon nach Genf gereist, um vor dem UNO-Menschenrechtsrat auf ihren verschwundenen Sohn und die vielen anderen Vermissten aufmerksam zu machen, sagt Amalans Mutter Jogarasa. Genützt habe es nichts. Sie und viele andere Angehörige fühlen sich von ihrem Land und der Welt im Stich gelassen. (Erstausstrahlung: 3. Februar 2024)
Sat, 20 Jul 2024 - 483 - «Best of»: Polen entdeckt seine jüdische Seite
In Polen lebten einst mehr Jüdinnen und Juden als in jedem anderen europäischen Land. Holocaust und Auswanderungswellen machten das zunichte. Doch der verlorene Teil der eigenen Kultur stösst auf neues Interesse. Und manche in Polen entdecken sogar, dass sie selbst jüdischer Abstammung sind. Als Teenagerin stiess Magda Dorosz auf die Familienmemoiren ihres verstorbenen Grossvaters. Und darin auf Namen von Verwandten, von denen sie bisher nie gehört hatte. Sie forschte nach und fand heraus, was ihr Grossvater verschwiegen hatte – dass ihre Familie eigentlich jüdisch ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Warschau nach New York die zweitgrösste jüdische Gemeinde weltweit. Von den knapp dreieinhalb Millionen polnischen Jüdinnen und Juden lebten nach dem Völkermord durch die Nazis nur noch ein Zehntel. Und die allermeisten Überlebenden verliessen Polen in den kommunistischen Nachkriegsjahren. Mit ihnen verschwand die jahrhundertealte jüdische Kultur Polens. Doch zunehmend mehr Polinnen und Polen beginnen sich für das verlorene Erbe zu interessieren. Der Spitzensportler Dariusz Popiela restauriert zusammen mit Freiwilligen jüdische Friedhöfe. «Das ist mein ganz persönliches Aufbegehren gegen das Vergessen», sagt er. Die Gastro-Unternehmerin Justyna Kosmala serviert in einem Warschauer Bistro jüdisch geprägte Gerichte. Sie ist überzeugt: «Essen ist ein guter Ausgangspunkt, um sich über die vielen Gemeinsamkeiten in Polen auszutauschen.» In Kazimierz, dem historischen jüdischen Viertel von Krakau, sind manche Gassen so voll von Touristen, dass man sich wie in einem jiddischen Disneyland vorkommt. Janusz Makuch, Organisator des jüdischen Kulturfestivals in Kazimierz, sagt: «Ich will der ganzen Welt zeigen, dass die sechs Jahre Völkermord an den Juden die tausend Jahre gelebter jüdischer Kultur hier nicht auslöschen können.» Den Rummel in Kazimierz nimmt er gern in Kauf, wenn dafür das jüdische Erbe Polens sichtbarer wird. (Erstausstrahlung: 16. Dezember 2023)
Sat, 13 Jul 2024 - 482 - Der russische Staat und die Medien - Verwirrung ist gewollt
Die Bevölkerung in Russland lebt in einer anderen Informationswelt als wir in der Schweiz. Auch deswegen unterstützen viele Russinnen und Russen den Krieg in der Ukraine nach wie vor. Doch wie funktioniert die russische Propaganda? Und glauben die Menschen wirklich, was ihnen erzählt wird? Bei Marina und Andrei läuft der Fernseher fast den ganzen Tag – ausser beim Essen. Es sind russische Scharfmacher, wie etwa der Nachrichtenmoderator Wladimir Solowjow, die bei ihnen über den Bildschirm flimmern. Und Nachrichten, ganz im Sinne des Kremls. Die Ukraine, ist Marina überzeugt, habe Russland angegriffen. Unabhängige Fernsehsender oder Radiostationen, unabhängige Zeitungen: in diesen Zeiten des Krieges, der sogenannten «Spezialoperation», gibt es sie nicht mehr in Russland. Sie wurden hinausgedrängt, ins Exil. Verboten oder gesperrt. Man kann sie dennoch empfangen, wenn man denn will. Viele wollen es nicht, haben Angst, das staatliche Narrativ zu hinterfragen, stellt der Soziologe Lew Gudkow fest. Zumal der Kreml selbst Unabhängigkeit imitiert. Etwa in seinen Kanälen im Internet, wo Kommentatoren vermeintlich alternative Standpunkte vertreten. Wer blickt da noch durch? «Ich rede mir ein, dass ich nicht einfach ‘Propaganda-Geschwurbel konsumiere. Aber vielleicht täusche ich mich auch selbst?», sinniert Maxim. Mascha wiederum nimmt Antidepressiva. Mit staatlichen Medien will sie nicht zu tun haben.
Sat, 06 Jul 2024 - 481 - Kosmetik mit dem Schaufelbagger – Küstenerosion in Portugal
Sandsteinfelsen, die abbrechen - Strände, die sich auflösen: Portugal kämpft gegen die Küstenerosion. Resorts und Luxushotels wurden über Jahrzehnte hinweg ohne Rücksicht auf die Naturgewalten hochgezogen. Ganze Feriensiedlungen sind dem Untergang geweiht. Im schicken Ferienort Vilamoura an der Algarve wurde ein grosser Yachthafen gebaut – es brachte die Strömung so durcheinander, dass seither im benachbarten Quarteira der Sand vom Strand weggeschwemmt wird. Mit Betonquadern versucht die Gemeinde die Erosion zu bremsen. Doch der Erfolg ist begrenzt, sagt der junge Bürgermeister von Quarteira, Telmo Pinto. Jeden Frühling fahren die Schaufelbagger auf, um den Sand, der abdriftet, zurück an die Strände, vor die Bars und Restaurants, zu kippen. Allein für die Strandkosmetik mit dem Schaufelbagger gibt der portugiesische Staat jedes Jahr Millionenbeträge aus. Es trifft nicht nur die Algarve, auch an der Westküste ist die immer stärkere Küstenerosion ein Problem. Der Klimawandel verschärft das Problem. Mancherorts drohen unterspülte Villen und Luxushotels ins Meer zu stürzen. Doch dafür werden nicht die Besitzer, sondern die portugiesischen Steuerzahlenden gradestehen müssen: weil der Staat die Villen einst bewilligt hat, kann er dafür haftbar gemacht werden – obwohl sie auf Sand gebaut wurden. Die Reportage über «angestammte Baurechte» entlang der Küste und eine neue Generation von Lokalpolitikern, die für ein Umdenken kämpft.
Sat, 29 Jun 2024 - 480 - Kampf um Kobalt in Kongo: Europa setzt auf die Eisenbahn
Von der Mine bis zur Zellfertigung – China dominiert die Batterie-Lieferkette, die für die E-Mobilität so wichtig ist. Zentral dabei: Kobalt, ein Rohstoff, der zu zwei Dritteln in Kongo gefördert wird. Das afrikanische Land ist zum Schauplatz eines Machtkampfs um strategische Rohstoffe geworden. Europa will gegenüber China aufholen. Und besinnt sich dabei auf die Kolonialzeit: Die Eisenbahn soll die notorisch verstopften Lastwagenrouten von Kongo ans Meer entlasten. Ein alternativer Transportweg zum Atlantik soll dafür gebaut werden – beziehungsweise: wiederbelebt. Die EU will gemeinsam mit den USA in diesen sogenannten „Lobito-Korridor investieren, die Eisenbahnverbindung, die 1929 von den belgischen und portugiesischen Kolonialregierungen gebaut wurde, um Kupfer via Angola nach Europa zu bringen. Für die EU ist das Projekt Teil des «Global Gateway»-Vorhabens. Ein «Game Changer» – wie es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen preist. Auch Schweizer Rohstoffkonzerne mischen mit. Aber es wird mehr brauchen als neue Verkehrswege, wenn Europa im Rohstoffgeschäft China tatsächlich Konkurrenz machen will. Die Reportage aus Kongo.
Sat, 22 Jun 2024 - 479 - Chinas Jugend unter Druck
Lahmende Wirtschaft, irreführende Propaganda, und allgegenwärtige Zensur: Junge Menschen sind in China unter Druck. Immense Erwartungen stehen eingeschränkten Karrierechancen gegenüber. Eine Telekommunikationsverkäuferin sucht schon seit längerem einen Job. Sie habe keine hohen Anforderungen, erzählt sie, sie wolle nur einen anständigen Lohn. Dennoch hat sie Schwierigkeiten, etwas zu finden. Die Jugendarbeitslosigkeit in China ist hoch. Im Unterschied zu den vorherigen Generationen ist der wirtschaftliche Aufstieg nicht mehr garantiert. Erwartet wird er trotzdem. Daran zerbrechen viele. Dies erzählt Schulpsychologin Liu. Sie beobachtet, dass psychische Probleme unter Chinas Jungen stark zugenommen haben. Dies zeige sich auch in einer gestiegenen Selbstmordrate. Dabei spielen auch die Folgen der strengen Coronapolitik eine Rolle. Gegen diese Politik hat es im ganzen Land spontane Proteste gegeben. Für China normalerweise undenkbar. Die junge Frau Anka ist per Zufall in die Proteste geraten, und geriet sofort ins Visier der Behörden. Sie will nach diesen Erfahrungen nur noch weg aus dem Land. Die SRF-Sendung «International» zeigt anhand verschiedener Geschichten junger Menschen in China, wie schwierig die Situation für viele derzeit ist. Was sie erzählen, steht im direkten Widerspruch zur offiziellen Propaganda, die unentwegt vom Fortschritt spricht.
Sat, 15 Jun 2024 - 478 - Darién – auf der «Todesroute» Richtung USA
In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft wählen immer mehr Menschen den Weg durch den Dschungel von Darién. Der tropische Regenwald markiert die Grenze zwischen Süd- und Nordamerika. Die Passage gilt als eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. In der kolumbianischen Gemeinde Acandi ist die Migration in Richtung USA zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden, auch die lokalen Drogenbarone verdienen mit. Aufbruch ist noch vor Sonnenaufgang: Menschen beladen mit Rucksäcken, Wasserkanistern, manche mit Kleinkindern auf dem Arm. Sie waten durch Flüsse, kämpfen sich matschige Hänge empor. Bald zieht sich der Menschenstrom in die Länge, die Schwächsten bleiben zurück. Bis zur Grenze mit Panama brauchen die meisten etwas mehr als einen Tag, sie werden dabei begleitet von kolumbianischen Schleppern. Auf panamaischer Seite sind sie danach für mehrere Tage auf sich allein gestellt. Viele werden im Darién ausgeraubt. Manche brechen erschöpft zusammen. Dennoch wählen immer mehr Migrierende diese Route Richtung Norden, letztes Jahr waren es mehr als eine halbe Million. In den Auffanglagern am Rio Tuqueza sammeln sich jene, die es durch den Dschungel geschafft haben. Bis zur Grenze der USA liegt noch ein mehrere tausend Kilometer langer Weg vor ihnen, auch er voller Risiken. Juan aus Venezuela ist unterwegs mit Frau und drei Söhnen. Er sagt: «Wir müssen für das Wohl unserer Kinder sorgen. Zuhause gibt es keine Arbeit, der Staat verfolgt dich. Ich werde mich nicht aufhalten lassen, bis ich es geschafft habe». Andere kommen aus Ecuador, aus Haiti, ja selbst aus Afghanistan oder China. Sie alle träumen von einem neuen Leben in Würde in den USA. Die Reportage.
Sat, 08 Jun 2024 - 477 - Erwartungen an Europa auf der Euro-Velo-Route Verdun-Maastricht
Am Wegrand der Euro-Velo-Route von Verdun nach Maastricht stehen vor den Europawahlen manchmal grosse Erwartungen an Europa und häufig enttäuschte Hoffnungen. Jacques Delors, der legendäre französische Präsident der EU-Kommission, soll einmal gesagt haben, dass Europa wie Velofahren sei. Europa müsse immerzu vorwärtsfahren, um nicht umzufallen. Delors verordnete der EU darum ein riesiges Reformprogramm, festgehalten 1992 im umstrittenen EU-Vertrag von Maastricht. Mit diesem wurde die Europäische Union gegründet, so wie wir sie in den Grundzügen heute kennen. Dank Maastricht hat Europa ein Gesicht erhalten. Dank Maastricht wissen viele Bürgerinnen und Bürger aber auch, wie weit in der EU zuweilen Anspruch und Wirklichkeit auseinanderliegen. Maastricht ist auch die Geburtsstadt der Euroskepsis. Am 9. Juni wählen rund 400 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger ein neues EU-Parlament. Die Zusammensetzung der 720 Abgeordneten wird einen Hinweis darauf geben, welche Europapolitik sich die Wählenden in den nächsten fünf Jahren wünschen. Die bevorstehenden Europawahlen sind eine gute Gelegenheit, entlang dem Flusslauf der Maas zu radeln. Von Verdun nach Maastricht. Um zu erfahren, wo Europa, die EU, die europäischen Zusammenarbeit, in der Gunst seiner Wählerinnen und Wähler aktuell steht. Ist Europa immer noch ein Friedensprojekt? Oder steht Europa primär für einen deregulierten Binnenmarkt? So viel sei verraten: Am Wegrand der Euro-Velo-Route von Verdun nach Maastricht stehen grosse Erwartungen an Europa, aber auch viele enttäuschte Hoffnungen.
Sat, 01 Jun 2024 - 476 - Südafrika: Die Regenbogennation am Scheideweg
Nach dem Ende der Apartheid hoffte die Schwarze Bevölkerung Südafrikas auf ein besseres Leben. Doch nach 30 Jahren Dauerherrschaft der einstigen Freiheitsbewegung ANC stehen gerade die, die von der ANC-Politik mit profitiert haben, vor der Frage, was zählt mehr: Die Vergangenheit oder die Gegenwart? Es war 1994, als Südafrika die Wahl von Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes bejubelte. Seither bestimmt dessen ANC, der African National Congress, die Politik des Landes. Er schaffte die diskriminierenden Gesetze ab, die die schwarze Bevölkerungsmehrheit während Jahrzehnten zu Menschen zweiter Klasse degradiert hatten. Schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner wurden gezielt gefördert, etwa in der Wirtschaft oder beim Staat. Historische Ungerechtigkeiten sollten überwunden werden. Seither ist jener Teil der Gesellschaft gewachsen, der sich aus der Armut hat befreien können: Die Schwarze Mittelschicht. Es sind Menschen wie Selina, Thapama und Pearl aus Soweto – südwestlich von Johannesburg - einst eine Hochburg des Widerstands gegen das weisse Apartheid-Regime. Alle drei sind vorangekommen im Leben. Und hadern doch mit dem Zustand ihres Landes. Korruption auf allen politischen Ebenen, hohe Kriminalität, grosse Arbeitslosigkeit - es läuft heute vieles schief in Südafrika. Der Alltag mit wiederkehrenden Ausfällen von Strom und Wasser ist bisweilen eine Zumutung. Und manchmal auch eine existenzielle Gefahr. Jetzt steht das Land erneut vor einer richtungsweisenden Wahl. Bei den Parlamentswahlen vom 29. Mai könnte der ANC um ersten Mal seit 30 Jahren auf nationaler Ebene seine absolute Mehrheit verlieren. Und gerade Menschen wie Pearl, Thapama, Selina und viele aus dem Schwarzen Mittelstand, müssen sich fragen: Was zählt mehr: Die Vergangenheit? Oder die Gegenwart?
Sat, 25 May 2024 - 475 - Ost und West in Europa – die Beziehung bleibt schwierig
Es war ein Meilenstein für Europa, als sich vor zwanzig Jahren gleich mehrere ehemals kommunistische Länder der EU anschlossen. Doch inzwischen ist der Glanz des grossen europäischen Projekts da und dort verblasst. Zwanzig Jahre Osterweiterung: die Vermählung der Ungleichen und ihre Nachwirkungen. Am Anfang standen grosse Erwartungen. Die Europäische Union wuchs 2004 auf einen Schlag von 15 auf 25 Länder. Die meisten Neumitglieder kamen aus dem Osten. Die Menschen dort versprachen sich von der neuen Epoche Wohlstand und Stabilität. Und freuten sich auf die neuen Freiheiten. Viele versuchten ihr Glück in den westlichen Ländern. Nicht wenige sind inzwischen in den Osten zurückgekehrt. Vier von ihnen erzählen hier ihre Geschichte: Von der engagierten tschechischen Professorin, die 2004 zuvorderst im EU-Abstimmungskampf stand, bis zum desillusionierten polnischen Kranführer, der den übertriebenen Einfluss der EU kritisiert. Die Rückkehrerinnen und Rückkehrer erzählen mit ihren persönlichen Geschichten auch einen Teil der Geschichte der EU und ihrer Erweiterung. Eine Geschichte, die noch immer mäandriert zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Aufbruch und Stagnation.
Sat, 18 May 2024 - 474 - Born to be Opfer? Nein! sagen engagierte Wendekinder
1989 waren sie klein, doch auch ihre Welt war ins Wanken geraten. Manche haben gelitten unter der rechten Gewalt der 90-er Jahre, andere genossen die Freiheit des rechtsfreien Raums. Heute teilen sie die Lust, ihre ostdeutsche Heimat zu gestalten und dem verbreiteten Frust etwas entgegenzusetzen. «Die meisten von uns waren so drauf: Wir machen es einfach selbst» sagt Patrick Hinz. «Das Coole war, dass es hier den Raum dafür gibt». Hinz leitet in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern eine Lokalzeitung. Dort deckt er mutig rechte Strukturen auf. Die Zeitung will zugleich zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen, denn «es gibt so viele, so gute Leute hier». Nadine Förster ist wie er in den 80-er Jahren in der DDR geboren und in der chaotischen Umbruchszeit gross geworden. Das selbsternannte «Inselkind» von Rügen tat, was ihre Eltern nicht durften: Sie bereiste die Welt und erkannte, wie einmalig ihre Heimat an der Ostsee ist. Jetzt kämpft sie als Lokalpolitikerin gegen den Ausverkauf ihres Dorfs. Auch Anna Stiede führt einen Kampf – es ist oft einer gegen das eigene Trauma der Vergangenheit. Ihre Jugend in den 90-er Jahren in Thüringen war umgeben von grauer Tristesse, Arbeitslosigkeit und rechter Gewalt. «Ich weiss selber, dass ich einen Schaden davongetragen habe». Sie verarbeitet den Wendeschmerz in Kunstprojekten. Janine Herntier schliesslich haute ab aus der düsteren brandenburgischen Provinz. Doch das Herz war stärker – jetzt ist sie mit ihrer Familie zurück.
Sat, 11 May 2024 - 473 - Die Renaissance Detroits
Detroit. Der Name galt lange als das Synonym des Niedergangs. Doch seit einiger Zeit geht es aufwärts. Mittlerweile gilt Detroit als eine der aufregendsten Städte der USA. Möglich wurde dies dank dem besonderen Charakter seiner Einwohner und Einwohnerinnen. 2013 lag die Stadt am Boden: Nach einem jahrelangen Niedergang war Detroit Bankrott und wurde unter die Verwaltung des Bundesstaates Michigan gestellt. Fabrikschliessungen hatten aus der einst blühenden Autostadt ein Symbol für Verwahrlosung und Kriminalität gemacht. Nun soll ausgerechnet die Firma Ford Teil der Wiederauferstehung sein. Galt der Autobauer wegen des Wegzugs eines Grossteils der Produktionsstätten lange als mitverantwortlich für die Krise, investiert Ford nun wieder in grossem Stil in die Stadt. Detroit soll zu einem weltweiten Zentrum der Innovation werden. Kaum ein Gebäude illustriert diesen Wandel besser als der stillgelegte Bahnhof. Bis vor kurzem noch leer und verwahrlost, soll der ikonische Bau im Juni mit einer neuen Nutzung neueröffnet werden. Private Investoren aber auch die Politik erhoffen sich viel vom Projekt. Der Wandel, der im Zentrum der Stadt bereits sichtbar ist, soll nun endlich auch die ärmeren Aussenquartiere erreichen. Damit dies überhaupt möglich war, liegt an den Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt. Aller Widrigkeiten zum Trotz gaben sie ihre Stadt nie auf und fanden stetig neue Wege, um weiterzumachen. Dieser Geist ist überall in der Stadt zu spüren: Nachbarschaften schliessen sich zu urbanen Landwirtschaftsprojekten zusammen, Menschen ziehen hierher, um Start-Ups zu gründen. Doch es bleibt die Frage: Profitieren am Ende wirklich alle Bewohnerinnen und Bewohner Detroits von diesem Wandel.
Sat, 04 May 2024 - 472 - Indiens heilige Kühe machen Politik
Im Hinduismus gelten Kühe als heilig. Unter Indiens hindu-nationalistischem Premier Narendra Modi ist der Schutz der Kühe Teil der politischen Agenda geworden. Das schürt Hass gegen religiöse Minderheiten wie Muslime, die von nationalistischen Gruppen als Kuh-Schmuggler verfolgt werden. Der Bauer Samiuddin erinnert sich noch genau an den Tag im Juni vor sechs Jahren. Er sei auf dem Feld gewesen. Auf einmal sah er den Ziegenhändler Qasim übers Feld rennen, verfolgt von einer Gruppe von 25 Männern. Diese schlugen erst Qasim und dann ihn. Zur Begründung hätten sie gesagt: «Du und Qasim, ihr habt eine Kuh geschlachtet.» Qasim starb, Samiuddin überlebte schwer verletzt. Sie hätten keine Kuh geschlachtet, sagt er. Es sei nur ein Gerücht gewesen. Der Lynch-Anschlag, der kein Einzelfall ist, hat das Leben des Bauern und seines Umfelds für immer verändert. Früher hätten die muslimische und die hinduistische Bevölkerung in seiner Region in Frieden gelebt. Jetzt nicht mehr. «Unter dem Vorwand, Kühe schützen zu wollen, schüren die Politiker Hass gegen uns Muslime», sagt der 66-Jährige. Rund 80 Prozent der 1,4 Milliarden Inderinnen und Inder sind Hindus. Seit seinem Amtsantritt verfolgt Premier Modi das Ziel, Indien auch politisch nach den Vorstellungen des Hinduismus auszurichten, obwohl die Verfassung säkular ist. Um alle Hindus hinter sich zu vereinen, schafft Modi einen gemeinsamen Feind: die muslimische Minderheit. Exemplarisch dafür ist sein Kampf um die heiligen Kühe.
Sat, 27 Apr 2024 - 470 - Waldbrände und Klimakrise: Das Beispiel Griechenland
Mit der Sommerhitze kommen die Waldbrände, die Klimakrise macht sie intensiver, die Feuerwehr bringt die Flammen oft kaum unter Kontrolle, riesige Waldflächen gehen verloren. Doch Griechenland will lernen aus früheren Desastern und sich besser wappnen, auch mit europäischer Hilfe. «Der Wald war unser Lebenselixier, er hat uns Arbeit gegeben. Hier im Dorf hast du eingeatmet und es hat nach Pinie geduftet»., sagt Dimitris Afendras im Örtchen Pappades auf der griechischen Insel Euböa. Davon ist nichts mehr übrig. Wo einst die Pinien dicht an dicht standen, ragen nur noch verkohlte Baumreste in den Himmel. Ein Grossfeuer im Sommer 2021 zerstörte einen grossen Teil des Pinienwalds im Norden von Euböa. «Die Wucht des Feuers war unglaublich. Wir sahen die Flammen und innert einer halben Stunde war das Dorf vom Feuer bereits umzingelt», sagt Giorgos Antoniou, der Dorfvorsteher. Schon immer war Griechenland mit seinen heissen, trockenen Sommermonaten ein Land der Waldbrände. Doch die Feuer werden grösser, die Konsequenzen gravierender. Das hat auch mit dem Klimawandel zu tun, sagen die Fachleute. Griechenland versucht sich darauf einzustellen. Die Regierung investiert in die Brandbekämpfung, die Feuerwehren werden aufgerüstet. Zugleich soll die Prävention verbessert werden. Es werden Schneisen in die Wälder geschlagen, das Unterholz, das als Brandbeschleuniger wirkt, soll entfernt werden. Griechenland zählt dabei auch auf Gelder aus Brüssel. Und die europäische Union investiert ihrerseits in den Kampf gegen die Waldbrände, sie koordiniert die Nachbarschaftshilfe unter Mitgliedstaaten und baut eine eigene Flotte von Löschflugzeugen auf, um besonders exponierten Ländern wie Griechenland künftig schneller helfen zu können.
Sat, 20 Apr 2024 - 469 - Immer weniger Junge in der «Werkstatt Italien»
Italien gehört zu den wichtigsten Industrienationen. Eigentlich müsste das Land viele Handwerkerinnen und Fachkräfte ausbilden. Doch nur wenige Junge machen eine Berufslehre, denn die Berufsbildung findet fast ausschliesslich an Schulen statt. Und immer mehr Junge zieht es an Unis. Berufslehren, wie wir sie in der Schweiz kennen, sind auch in Italien möglich. Allerdings bieten sie nur wenige Betriebe an. Denn Italien bildet angehende Coiffeure, Pizzabäckerinnen oder Schreiner fast ausschliesslich an Schulen aus. Übung und Praxis kommen erst später dazu. Das hat historische Gründe, ist heute aber ein Nachteil. Die Berufsbildung an Schulen ist nicht besonders beliebt. Und vor allem im Süden ist die Zahl der Schulabbrüche hoch, während im wirtschaftlich starken Norditalien Firmen händeringend nach Nachwuchs suchen. Die Geburtenschwäche Italiens verschärft den Fachkräftemangel. Oder die Tatsache, dass in technischen Brufen Frauen weitgehend fehlen. Zudem verliert Italien wegen tiefer Löhne gut ausgebildete Fachkräfte ans Ausland. Italiens Regierung versucht Gegensteuer zu geben, bisher ohne Erfolg.
Sat, 13 Apr 2024 - 468 - Israel/Palästina – Die Grüne Linie und die Zweistaatenlösung
Die «grüne Linie» sollte einst die Grenze zwischen Israel und einem künftigen Palästinenserstaat werden. Eine Reise entlang der grünen Linie zeigt jedoch: eine Zweistaatenlösung scheint utopisch: geografisch und psychisch. Erst recht, solange noch Krieg ist. Noch steht die israelische Bevölkerung unter dem Schock des Hamas-Terrors vom 7. Oktober. Noch geht der blutige Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen weiter. Im letzten halben Jahr sind in Israel, im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland Zehntausende getötet worden. Und ausgerechnet jetzt fordert die Welt – allen voran US-Präsident Joe Biden – die Rückbesinnung auf die Zweistaatenlösung, um dem endlosen Blutvergiessen zwischen Israeli und Palästinensern ein Ende zu setzen. Neben Israel einen unabhängigen palästinensischen Staat zu schaffen, ist eine alte Forderung. Im Kontext der Staatsgründung Israels kam es 1947 – 1949 zum Palästinakrieg, dem ersten israelisch-arabischen Krieg. Als dieser mit einem Waffenstillstand endete, zeichneten die Kriegsparteien – in grüner Tinte – auf der Karte der Region die grüne Linie ein. Diese sollte die Grenze zwischen Israel und einem künftigen Staat Palästina bilden. Nach gescheiterten Friedensverhandlungen und Jahrzehnten des Blutvergiessens bleibt die Forderung unerfüllt. Palästinenserinnen und Palästinenser sagen, die grüne Linie sei heute nicht einmal mehr das Papier wert, auf das sie einst gezeichnet wurde. Ihr Land hinter der grünen Linie ist durchsetzt von israelischen Siedlungen, die israelische Armee hat die Kontrolle. Israeli befürchten, ein palästinensischer Staat wäre für ihr Land eine existentielle Bedrohung: nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober erst recht. Bleibt von der «grüne Linie» also nur noch Mauer und Stacheldraht? Von Beit Sahur im besetzten Westjordanland bis zum Kibbutz Mifalsim an der Grenze zum Gazastreifen: eine Reportage zwischen Verzweiflung und kleinen Funken von Hoffnung.
Sat, 06 Apr 2024 - 467 - Umstrittene Superknollen im Meeresgrund
In drei- bis sechstausend Metern Tiefe auf dem Meeresboden liegen Manganknollen: Diese beinhalten grosse Mengen an wertvollen Metallen, die zum Beispiel für den Bau von E-Autos wichtig sind. Liegt im Meeresgrund die Lösung für die Energiewende oder zerstört der Tiefseebergbau das Ökosystem Meer? Es sind wahre Schätze, die im Meer lagern – wie Kopfsteinpflaster, aber tausende Meter unter der Wasseroberfläche. Die polymetallischen Knollen, wie sie auch heissen, versprechen grosse Profite. Denn die Metalle, die in ihnen lagern, sind gefragt: so beispielsweise Kupfer, Nickel, Kobalt oder Mangan. Viele der Knollen liegen in internationalem Gebiet, zuständig ist für sie die Meeresbodenbehörde ISA mit Sitz in Jamaika – eine Institution der Vereinigten Nationen. Die ISA hat bislang dreissig Genehmigungen zur Erforschung der Knollen erteilt, die meisten betreffen die Clarion-Clipperton-Zone zwischen Mexiko und Hawaii. Ob aber auch die Förderung der Bodenschätze erlaubt werden soll, und wenn ja, unter welchen Bedingungen: Das ist stark umstritten. Einige Ländern wittern das grosse Geschäft, während Umweltorganisationen befürchten, dass der Abbau irreparable Schäden für die Natur nach sich ziehen würde. Eine kontroverse Reportage mit Stimmen aus Ostasien und dem Südpazifik.
Sat, 30 Mar 2024 - 466 - Wohnungsnot in Spanien: Im Land der WGs wider Willen
Menschen, die mit über dreissig noch immer bei ihren Eltern leben. Paare, die sich getrennt haben, aber weiter zusammenwohnen. Viele Spanierinnen und Spanier können es sich nicht mehr leisten, eine Wohnung für sich allein zu mieten. Ein Missstand mit Folgen. Eigentlich sind Concha und ihr Mann bereits seit rund zehn Jahren kein Paar mehr. Aber sie teilen sich weiterhin die Wohnung. «Es ist sehr kompliziert, eine Wohnung in Madrid zu mieten oder zu kaufen. Und sehr teuer», sagt die 62-jährige Concha. «Deshalb machen wir einfach weiter wie vorher.» Diese «WG mit dem Ex» ist nur ein Beispiel unter vielen. Die Spanierinnen und Spanier leiden seit Jahren unter steigenden Wohnkosten, viele können sich keine eigene Wohnung mehr leisten. Besonders betroffen sind auch die Jungen. Ihnen bleibt häufig als Ausweg die «WG mit den Eltern». Über 80 Prozent der unter 30-Jährigen wohnen noch im Elternhaus – das ist mehr als doppelt soviel wie in der Schweiz. Die Wohnungsnot ist auch eines der wichtigsten politischen Themen in Spanien. Das stark polarisierte Land kämpft um die richtige Lösung für das Problem. Die Regierung will die Lage entschärfen – etwa mit der Förderung von sozialem Wohnungsbau und mit Obergrenzen der Mietpreise. Doch wird das neue Wohnungsgesetz, das erste in der Geschichte der spanischen Demokratie, tatsächlich Wirkung zeigen?
Sat, 23 Mar 2024 - 465 - Grossbaustelle Saint-Denis: Olympia in der Banlieue
Die Olympischen Spiele von Paris werden diesen Sommer zu einem grossen Teil ausserhalb der Stadtgrenze ausgetragen. Am stärksten sind die urbanen Eingriffe dafür im Département Seine-Saint-Denis. Die strukturschwache Banlieue erhofft sich viel davon, weit über die Sportveranstaltung hinaus. An spektakulären Schauplätzen wird es bei den Olympischen Spielen diesen Sommer in Paris nicht mangeln: Basketball oder Skateboard auf der Place de la Concorde, Strandvolleyball neben dem Eiffelturm, Bogenschiessen vor den Invalides. Aber diese Wettkampforte sind provisorisch und werden nach den Spielen wieder abgebaut. Nur fünf Prozent der Spielstätten wurden von Grund auf neu gebaut. Auf Pariser Stadtboden ist dies nur die Arena in Porte de la Chapelle, einem benachteiligten Quartier. Die meisten der Neubauten für die Olympische Spiele entstehen ausserhalb der Ringautobahn, in der nördlichen Banlieue von Paris, einer Gegend, die sonst vor allem durch soziale Spannungen und hohe Kriminalität Schlagzeilen macht: Saint-Denis und die umliegenden Gemeinden sind zur olympischen Grossbaustelle geworden. Der Aufbau der neuen Sportanlagen kostet knapp die Hälfte des gesamten Budgets von rund 8,8 Milliarden Euro. Die Olympischen Spiele werden in der Banlieue von Paris auch langfristig ein Erbe hinterlassen. Das Département Seine-Saint-Denis erhält ein neues Wassersportzentrum und zahlreiche Sportanlagen, die sich arme Vororte sonst nicht leisten können. Und die Olympischen Spiele sind nicht der einzige Entwicklungsmotor in Saint-Denis.
Sat, 16 Mar 2024 - 464 - Peru: Eine Demokratie, die keine mehr ist
Vor rund einem Jahr starben in Peru 67 Menschen durch Polizeigewalt, bei Demonstrationen gegen Präsidentin Dina Boluarte. Die Todesopfer waren mehrheitlich Indigene. Seither gilt Dina Boluarte, Perus erste Präsidentin überhaupt, als hochumstritten und die peruanische Demokratie als beschädigt. «Wir Indigenen werden keine Ruhe geben, bis wir Gerechtigkeit erhalten», sagt Raúl Samillán. Er spricht stellvertretend für alle Familien, die bei Protesten in Perus Süden letztes Jahr Angehörige verloren, durch Polizeigewalt. Als am 9. Januar 2023 in Juliaca am Titicacasee 19 Menschen bei Demonstrationen starben, verlor Raúl auch seinen Bruder. «Mein Bruder Marco Antonio war Arzt und half an diesem Tag Verletzten, als er erschossen wurde. Niemand hat das Recht jemand anderem das Leben zu nehmen, deshalb sind wir heute in Lima, damit diese Taten nicht straffrei bleiben». Aufgrund der Polizeigewalt zeigten peruanische Anwälte Präsidentin Dina Boluarte und andere Regierungs-Mitglieder vor dem Internationalen Strafgerichtshof an. «Wir sind nicht die Ukraine oder Gaza, aber unser demokratisches System ist unter Druck», sagt Menschenrechts-Anwältin Cruz Silva. Druck müsse jetzt auch die internationale Gemeinschaft ausüben auf die peruanische Regierung, damit sie die Menschenrechte achte. Ein genauerer Blick zeigt: Die peruanische Demokratie ist tatsächlich in Gefahr. Grund ist ein Parlament ausser Rand und Band und demokratische Institutionen, die nur auf dem Papier funktionieren.
Sat, 09 Mar 2024 - 463 - Ein grünes Stahlwerk lässt die Schwedische Provinz träumen
Im Norden Schwedens wird bald ein wasserstoff-betriebenes Stahlwerk eröffnet. Tausende Arbeitsplätze entstehen und sollen der Gegend neues Leben einhauchen. Doch nicht alle sind davon überzeugt, ob dieses Projekt tatsächlich so nachhaltig ist, wie es scheint. Es ist ein Projekt der Superlative: Dereinst soll das neue, umweltfreundliche Stahlwerk genauso viel Stahl produzieren, wie die restlichen Stahlwerke Schwedens zusammen. Ein Leuchtturmprojekt der grünen industriellen Revolution innerhalb der ganzen EU. Dafür sollen Menschen aus der ganzen Welt in die Kleinstadt Boden ziehen. Das verspricht sich der Bürgermeister. Und das soll erst der Anfang sein. Er erhofft sich, dass seine Stadt bald wieder aufblüht, nachdem sie davor jahrelang geschrumpft ist. Doch nicht alle sind so optimistisch: Die Sami, die Uhreinwohner Schwedens, fürchten, dass die Natur trotz gegenteiliger Versprechen in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie leben meist von der Rentierzucht und sind dafür auf intakte Wälder angesiesen. Sie fürchten, dass der Entwicklungssprung für Boden für sie eine weitere Verkleinerung ihres Lebensraums bedeutet.
Sat, 02 Mar 2024 - 462 - Pharaonische Krise in Ägypten
Seit gut zehn Jahren regiert der ehemalige General Abdel Fatah Al Sisi. Er stützt sich auf die Armee, die immer tiefer in die Wirtschaft verstrickt ist. Das bevölkerungsreichste arabische Land soll mit pharaonischen Bauprojekten in die Zukunft katapultiert werden. Doch die Armut steigt. Schnellstrassen, Metrolinien, eine gigantische neue Verwaltungshauptstadt mitten in der Wüste - die Projekte reissen gewaltige Löcher in die Staatskasse. Ägypten hängt am Tropf ausländischer Kreditgeber. Besserung ist nicht in Sicht. Staatspräsident Sisi schwört sein Land mit bizarren Vergleichen auf immer härtere Durststrecken ein: "Bei Gott, wenn der Preis für Fortschritt und Wohlstand der Nation darin besteht, hungrig und durstig zu sein, dann lasst uns weder essen noch trinken." Doch ob die Investitionen in die Infrastruktur und die milliardenverschlingenden Prestigeprojekte der Bevölkerung dereinst bessere Lebensperspektiven bringen, wird von Fachleuten in Frage gestellt. Bis jetzt profitiert vor allem die Armee: sie ist zum wichtigsten Akteur in der ägyptischen Wirtschaft aufgestiegen. Die Reportage aus Kairo und aus dem Nil-Delta.
Sat, 24 Feb 2024 - 461 - Nichts wie weg! Albanien verliert die Jungen
Korruption, Kriminalität, kaum berufliche Perspektiven: In den letzten drei Jahrzehnten haben mehr als eine Million Albanerinnen und Albaner ihr Land verlassen. Und der Exodus geht weiter. Die Folgen sind im ganzen Land spürbar. «Es gibt nichts zu tun für junge Menschen hier. Man kann Billiard oder Playstation spielen - oder in Kaffees rumhängen», sagt ein junger Mann in einem albanischen Dorf. Der Satz steht exemplarisch für die fehlenden Perspektiven vieler Jungen im Land. Kein Wunder, versuchen sie ihr Glück anderswo. Häufig in einem anderen Land. Albanien kämpft mit Abwanderung. Knapp ein Drittel aller, die im Land geboren wurden, leben mittlerweile im Ausland. Und sie sind gesucht: Wegen des Fachkräftemangels rekrutieren etwa deutsche Firmen gezielt Angestellte aus dem Westbalkan. Mit negativen Auswirkungen, wie sich etwa beim Pflege- und Spitalpersonal zeigt. Leute mit medizinischer Ausbildung sind im Ausland besonders begehrt. Die vielen, die ins Ausland gehen, fehlen in Albanien selbst - was die angespannte Lage im eh schon maroden Gesundheitswesen des Landes zusätzlich verschärft. Das Beispiel illustriert ein grundsätzliches Problem Albaniens: Es sind häufig junge und gut ausgebildete Menschen, die auswandern. Jener Teil der Gesellschaft also, der eigentlich gute Perspektiven haben sollte und das Land vorwärtsbringen könnte.
Sat, 17 Feb 2024 - 460 - Querpass – wie Politik und Fussball in Afrika zusammenspielen
Politik und Fussball sind in Afrika eng verwoben. Der Präsident redet dem Nationalcoach in die Aufstellung rein. Der Fifa-Chef wird ohne Afrika nicht gewählt. Und in der Elfenbeinküste soll gar das Nationalteam einen Bürgerkrieg beendet haben. «Das Turnier ist ein Erfolg für den Präsidenten!» Der Matchbesucher am Afrikacup in der Elfenbeinküste unterstützt das Heimteam. Und er applaudiert dem Präsidenten Alassane Ouattara, der im Auto eine Stadionrunde dreht. Klubbesitzer nutzen den Sport als Einstiegshilfe in die Politik. «Als Politiker suchst du Unterstützung bei Kirchen, Gewerkschaften und Fussballclubs», erklärt ein kenianischer Klubpräsident. Mit George Weah wurde ein früherer Weltfussballer gar Staatspräsident Liberias. Der Fussball bringt Menschen zusammen. In der Elfenbeinküste bat Captain Didier Drogba die Bürgerkriegsparteien: «Vergebt euch, legt die Waffen nieder!» Afrikas Fussballbegeisterung nutzt auch Fifa-Präsident Gianni Infantino. Ohne die Unterstützung der nationalen Verbände wäre er nie ins Amt gewählt worden. Dafür zeigt er sich gerne erkenntlich.
Sat, 10 Feb 2024 - 459 - Sri Lanka kommt nicht zur Ruhe
Schon Jahrzehnte dauert der Konflikt zwischen den tamilischen und singhalesischen Volksgruppen in Sri Lanka an. Der blutige Bürgerkrieg endete vor 15 Jahren, doch die Narben sind nicht verheilt, Kriegsverbrechen wurden nicht aufgeklärt, noch bleiben viele Tamilinnen und Tamilen vermisst. Jogarasa Kanakarangini hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Seit Mai 2009 wartet die 64-jährige Tamilin darauf, ihren Sohn Amalan wieder in die Arme zu schliessen. Amalan hatte im Bürgerkrieg mit den Tamil Tigers für einen separaten Tamilen-Staat gekämpft und sich direkt nach der Niederlage ergeben. Das damalige Versprechen, ihn und die vielen anderen zu rehabilitieren, hat die Regierung bis heute nicht eingelöst. Die tamilischen Gefallenen und Vermissten sind in den Augen der singhalesisch-dominierten Regierung Sri Lankas schlicht Terroristen, die einen tödlichen Unabhängigkeitskampf gegen den rechtmässigen Staat geführt hätten. Die separatistische Gefahr sei noch immer nicht gebannt, die Unterdrückung der tamilischen Minderheit daher gerechtfertigt. Angehörige der Vermissten, wie Jogarasa Kanakarangini, plädieren dagegen für Aufklärung und Gerechtigkeit. Fünf Mal sei sie schon nach Genf gereist, um vor dem UNO-Menschenrechtsrat auf ihren verschwundenen Sohn und die vielen anderen Vermissten aufmerksam zu machen, sagt Amalans Mutter Jogarasa. Genützt habe es nichts. Sie und viele andere Angehörige fühlen sich von ihrem Land und der Welt im Stich gelassen.
Sat, 03 Feb 2024 - 458 - Die philippinischen Fischer inmitten der Geopolitik
Seit Jahren geht China im Südchinesischen Meer immer aggressiver vor. Das Land sieht die Gewässer westlich der Philippinen als eigenes Staatsgebiet. Die lokalen Fischer werden von ihren Fischgründen abgeschnitten und verlieren ihre Lebensgrundlage. Immer wieder kommt es zu heiklen Situationen auf dem Meer: Die chinesische Küstenwache trifft auf die philippinische Küstenwache, vertreibt Fischer gewaltsam von ihren angestammten Fischgründen. China ist entschlossen, seine Besitzansprüche zu untermauern. Dabei baut die Weltmacht ihre militärische Präsenz auf Inseln und Atollen aus. Riffe werden mit Sand aufgeschüttet und zu regelrechten Festungen im Meer ausgebaut. Dabei ist das internationale Recht deutlich: China habe keinen Anspruch auf das von den Philippinen beanspruchte Gebiet. Doch Peking setzt sich über den Schiedsspruch hinweg und beruft sich dabei auf historische Rechte. Die USA dagegen haben eine Militärallianz mit den Philippinen und wollen die Kontrolle über die Gewässer nicht China überlasen. Dabei geht es auch um Geopolitik, Handelsrouten und Bodenschätze. Die Folgen dieses Kräftemessens spüren die lokalen Bewohner und Bewohnerinnen. Die Fischer genauso wie der Tourismusbeauftragte einer abgelegenen Inselgruppe.
Sat, 27 Jan 2024 - 457 - Die «grüne Lunge» Afrikas: Gabun und der Schutz des Regenwalds
Das zentralafrikanische Gabun gilt beim Klimaschutz als vorbildlich. Als eines der wenigen Länder weltweit nimmt es mehr CO2 auf als es ausstösst. Dies dank des tropischen Regenwaldes, der einen Grossteil des Landes bedeckt. Ihn zu nutzen und gleichzeitig zu schützen ist eine Herausforderung. Fast 90 Prozent der Fläche von Gabun sind mit tropischem Regenwald bedeckt, ein Teil davon ist Primärwald, ursprünglich und unberührt. Unzählige Insekten und Tierarten bevölkern den Wald, Elefanten etwa und Gorillas. Abgeholzt wird nur wenig. Der Regenwald soll geschützt werden, darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Und so überwacht Gabun seinen Waldbestand so genau wie kein anderes afrikanisches Land, mit Hilfe von Technologie aus der Raumfahrt. Doch gleichzeitig soll der Regenwald auch genutzt werden dürfen. Denn Gabun will in seiner wirtschaftlichen Entwicklung nicht gebremst werden, die mehrheitlich junge Bevölkerung braucht Jobs und Perspektiven. Das Land lebte bisher hauptsächlich vom Erdöl, will nun aber zunehmend auf andere Wirtschaftszweige setzen, zum Beispiel auf die Holzindustrie. Doch ist das nachhaltig? Wer profitiert davon und wer sind die Verlierer?
Sat, 20 Jan 2024 - 456 - Com'era, dov'era – Italien zwischen Nostalgie und Aufbruch
Dass alles so bleiben muss, wie es war, ist ein Motto Italiens im Umgang mit seiner grossartigen Vergangenheit. Es macht das Land aber auch zu einem grossen Museum. Eine Reise zwischen Bozen und Bari zeigt die Problematik dieses Ansatzes und eine innovative Seite Italiens hinter den Klischees. Als 1902 der weltberühmte Glockenturm von San Marco in Venedig einstürzte, war der Schock gross. Nach dem Motto: «Com'era e dov'era» - «dort wo er war und wie er war» wurde er in Rekordzeit wiederaufgebaut. Diese Haltung führt aber auch zu Erstarrung und Stillstand. Die mittelalterliche Stadt Camerino in den Marken zum Beispiel ist seit einem Erdbeben 2016 quasi eingefroren, weil alles wieder so sein soll, wie es war. In den Uffizien von Florenz zeigt der erfolgreiche Direktor Eike Schmidt, wie man mit Vergangenheit die Jugend anzieht. Turin wiederum ist ein Wahrzeichen einer italienischen Nostalgie, als es Italien dank grossen Firmen wie Fiat in den 1960ern bis 1980ern gut ging. Und Bari in Apulien zeigt, wohin dieses Land gehen kann. Die Stadt, berühmt für die handgemachten Orecchiette, liegt in der Rangliste der führenden Startups an fünfter Stelle, unmittelbar hinter Mailand, Turin, Rom und Neapel.
Sat, 13 Jan 2024 - 455 - Die zweite Front – Kriegsangst in Libanon
Je länger der Gaza-Krieg andauert, umso grösser die Gefahr, dass er sich zum Nahost-Krieg ausweitet. Ob es so weit kommt, wird sich im libanesisch-israelischen Grenzgebiet zeigen. Seit drei Monaten liefern sich die israelische Armee und die schiitische Miliz Hisbollah dort Gefechte. Die Reportage. Die Fahrt vom Checkpoint quer durch die Pufferzone bis zur libanesisch-israelischen Demarkationslinie führt über Serpentinen hinauf auf karge, steinige Hochebenen, vorbei an leeren Dörfern und Höfen. Wie ausgestorben liegen sie da. Es ist spärlich bewachsenes Hügelland, über das Hirten mit ihren Schafherden ziehen. Wäre es nicht der Südlibanon, es wäre eine Idylle. «Eigentlich könnten wir hier ganz gut leben», sagt der Schafhirt Ibrahim. Doch die Gegend ist zu gefährlich geworden. Erst kürzlich wurden zwei Hirten auf dem Feld von einer Granate getötet. Ibrahim wird wegziehen zu Verwandten in die etwas entfernte Bekaa-Ebene. Rund fünfzigtausend Menschen haben das umkämpfte Grenzgebiet mittlerweile verlassen und im sichereren Hinterland Zuflucht gefunden. «Wir haben mit diesem Krieg nichts zu tun», sagt Ibrahim. «Wir wollen einfach nur leben». Doch die Miliz Hisbollah («Partei Gottes») hat in der Gegend ihre Stellungen. Und sie will mit einem Kleinkrieg über die Grenze gegen Israel Solidarität mit der Hamas demonstrieren. Die Hisbollah wurde in den Achtzigerjahren im libanesischen Bürgerkrieg von den iranischen Revolution-Garden gegründet, stark wurde sie im Guerillakampf gegen die einstige israelische Besatzung des Südlibanons. Seither präsentiert sie sich als die Beschützerin der schiitischen Minderheit im Libanon, zugleich als Vorkämpferin für die palästinensische Sache. Sie verfügt wohl über mehr als einhunderttausend Raketen, darunter weitreichende und präzise, gegen die – in Schwärmen verschossen - auch Israels «Iron Dome»-Schutzschild wenig ausrichten könnte. Kampferfahren und diszipliniert, wäre die Hisbollah im Ernstfall für Israel ein hochgefährlicher Gegner. Die Mehrheit der Libanesinnen und Libanesen lebt schon seit Jahren in einem Zustand permanenter Unsicherheit und Bedrohung, nun kommt noch die Kriegsangst dazu. «Wir sind wie ausgeliefert», sagt auch Leila in ihrem Lebensmittelgeschäft im Westen der Hauptstadt Beirut. «Hier kann dir alles passieren».
Sat, 06 Jan 2024 - 454 - «Best of»: Sacklzement nomoi: Annäherung an die bayerische Seele
«Immer wieder diese Bayern» denken viele im Rest der Republik. Sie fühlen sich als etwas Besonderes und sie ragen vielerorts auch heraus. Zwar hat die CSU längst an Zuspruch verloren, aber Heimatverbundenheit kennt eben keine Parteifarben. Reportage auf der Suche nach der bayerischen Seele. «Für die Bayern wäre es vielleicht sinnvoller, wenn sie manchmal etwas zurückhaltender agieren täten». Das sagt Professor Heinrich Oberreuter mit Blick auf den zur Schau getragenen Stolz. Tradition und Modernisierung haben den Freistaat weit gebracht. Die Politik bleibt allerdings Männersache. Kabarettistin Luise Kinseher wurde mit Hass eingedeckt, als sie als erste Frau beim Starkbierfest auf dem Nockherberg die bissige Spottrede gegen die politische Elite halten durfte. Ihre Auftritte als «Mama Bavaria» haben sie dennoch zu einem Teil der bayerischen Heimat gemacht. Wie die dominante CSU in Universitätsstädten an Zustimmung verlor, zeigt die Reise nach Passau und die Suche nach der bayerischen Seele führt zu Musiker Christoph Well. Er hatte mit der legendären «Biermösl Blosn» die Volksmusik einst modernisiert und mit satirischen Texten die Konservativen geschockt. «Stofferl» Well kennt den Klang Bayerns und setzt sich dafür auch an die Harfe. CSU-Ministerpräsident Markus Söder definiert im aktuellen Landtagswahlkampf gleich selbst, was bayerisch ist. «Bayern ist fast zu schön, um wahr zu sein», beobachtet Publizistin Anna Clauss und erklärt diese «Mischung aus Wunderland und Schurkenstaat». (Erstaustrahlung: 30. September 2023)
Sat, 30 Dec 2023 - 453 - «Best of»: Lwiw – eine Stadt zwischen Alltag und Trauma
In der westukrainischen Stadt Lwiw bricht der Krieg nur ab und zu in den Alltag ein. Doch unter der Oberfläche von scheinbarer Leichtigkeit liegen Schmerz und Trauer. Lwiw, das frühere Lemberg, ist reich an architektonischer Schönheit und zieht seit jeher Reisende an. Im Krieg aber wurde Lwiw zu einer Durchgangsstation auf der Flucht nach Westen. Für viele ist die Stadt auch eine sichere Zuflucht im eigenen Land, weil hier weniger Bomben fallen. In den malerischen Gassen der Altstadt spürt man viel Normalität. So sind die Museen wieder offen, es finden Stadtführungen statt und Leute aus Kiew oder dem Osten der Ukraine erholen sich hier oder fangen neu an. Daneben sind in Lwiw aber auch die Schrecken des Kriegs deutlich spürbar. Es kommen Konvois mit Verletzten an. Es sind Versehrte aus den Kampfgebieten, die man hier behandelt. Die meisten benötigen Prothesen. Und jeden Tag werden Gefallene beerdigt. Viele stellen sich die bange Frage: überleben wir das? (Erstausstrahlung: 26. August 2023)
Sat, 23 Dec 2023 - 452 - Polen entdeckt seine jüdische Seite
In Polen lebten einst mehr Jüdinnen und Juden als in jedem anderen europäischen Land. Holocaust und Auswanderungswellen machten das zunichte. Doch der verlorene Teil der eigenen Kultur stösst auf neues Interesse. Und manche in Polen entdecken sogar, dass sie selbst jüdischer Abstammung sind. Als Teenagerin stiess Magda Dorosz auf die Familienmemoiren ihres verstorbenen Grossvaters. Und darin auf Namen von Verwandten, von denen sie bisher nie gehört hatte. Sie forschte nach und fand heraus, was ihr Grossvater verschwiegen hatte – dass ihre Familie eigentlich jüdisch ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Warschau nach New York die zweitgrösste jüdische Gemeinde weltweit. Von den knapp dreieinhalb Millionen polnischen Jüdinnen und Juden lebten nach dem Völkermord durch die Nazis nur noch ein Zehntel. Und die allermeisten Überlebenden verliessen Polen in den kommunistischen Nachkriegsjahren. Mit ihnen verschwand die jahrhundertealte jüdische Kultur Polens. Doch zunehmend mehr Polinnen und Polen beginnen sich für das verlorene Erbe zu interessieren. Der Spitzensportler Dariusz Popiela restauriert zusammen mit Freiwilligen jüdische Friedhöfe. «Das ist mein ganz persönliches Aufbegehren gegen das Vergessen», sagt er. Die Gastro-Unternehmerin Justyna Kosmala serviert in einem Warschauer Bistro jüdisch geprägte Gerichte. Sie ist überzeugt: «Essen ist ein guter Ausgangspunkt, um sich über die vielen Gemeinsamkeiten in Polen auszutauschen.» In Kazimierz, dem historischen jüdischen Viertel von Krakau, sind manche Gassen so voll von Touristen, dass man sich wie in einem jiddischen Disneyland vorkommt. Janusz Makuch, Organisator des jüdischen Kulturfestivals in Kazimierz, sagt: «Ich will der ganzen Welt zeigen, dass die sechs Jahre Völkermord an den Juden die tausend Jahre gelebter jüdischer Kultur hier nicht auslöschen können.» Den Rummel in Kazimierz nimmt er gern in Kauf, wenn dafür das jüdische Erbe Polens sichtbarer wird.
Sat, 16 Dec 2023 - 451 - Die Zukunft der Shetlandinseln zwischen Öl und Wind
Die Shetlandinseln sind bekannt für Schafe, Ponys und Seevögel. Auf der windigen Felsformation in der Nordsee liegt aber auch der grösste Öl-Hafen Europas und es drehen sich viele Windräder. Zwischen Wind und Öl zeigen sich die Vergangenheit und die Zukunft der Energieversorgung. Der nördlichste Zipfel des Vereinigten Königreichs verfügt über eine eindrückliche Infrastruktur: mehrere Hallenbäder, ein Kulturzentrum und Strassen ohne Schlaglöcher. Diese hat Shetland dem Erdöl-Reichtum der Nordsee zu verdanken, der den abgelegenen Inseln während Jahrzehnten hohe Einnahmen bescherte. Doch in Zeiten des Klimawandels zeichnet sich das Ende der fossilen Energien ab und die Shetlandinseln bereiten sich auf eine neue Zukunft vor. Zu dieser gehört die Nutzung eines anderen Reichtums dieser Inseln, des Windes. Hunderte Windräder produzieren bereits heute Strom. Und draussen in der Nordsee, dort wo während Jahrzehnten das Öl sprudelte, will man im leergepumpten Meeresgrund CO2 einlagern. Doch wie viel schädliches CO2 man dereinst tatsächlich in die alten Bohrlöcher pressen kann, ist umstritten. Klar ist hingegen, dass der Klimawandel längst die Artenvielfalt des subarktischen Archipels gefährdet.
Sat, 09 Dec 2023 - 450 - In den USA sind minderjährige Arbeitskräfte immer begehrter
Teenager schuften nach der Schule auf Äckern oder im Service und verrichten auch gefährliche Arbeiten: In den USA kommt das immer öfter vor. In einigen Bundesstaaten wurden die Gesetze gelockert. Gewerkschaften schlagen Alarm. In den USA fehlt es in vielen Branchen an Arbeitskräften. Für manche Jobs gibt es kaum erwachsene Bewerberinnen und Bewerber. Auf der Suche nach Personal setzen viele Betriebe deshalb auch auf Minderjährige. Die dann jeweils neben der Schule noch stundenlang zur Arbeit gehen. Damit die Rekrutierung von Jugendlichen noch einfacher wird, haben einige Bundesstaaten die Regeln für Kinder- und Jugendarbeit gelockert. Zur Diskussion steht beispielsweise auch, dass junge Menschen für gefährliche Arbeiten eingesetzt werden könnten. Gewerkschaften und Verbrauchschutzorganisationen beobachten diese Entwicklung mit Sorge. Sie vermuten, dass der Mangel an Arbeitskräften nur ein Grund für lockerere Gesetze sei, und befürchten, es verstecke sich dahinter die Absicht, den Arbeitsschutz generell zu schwächen.
Sat, 02 Dec 2023 - 449 - Armut. Hoffnung. Schuldenfalle? Mikrokredite in Kambodscha.
Helfen sie tatsächlich, die Armut zu lindern? Oder treiben sie die Armen nicht vielmehr in die Schuldenfalle? Mikrokredite sind in Kambodscha weit verbreitet, das Land gehört – gemessen am Pro-Kopf-Volumen – zu den weltweit grössten Mikrofinanzmärkten. Doch das System steht in der Kritik. Mai Chhen* lebt ein bescheidenes Leben. Doch sie brauchte ein Motorrad für den Weg in die Fabrik, musste die Spitalrechnungen für ihren kranken Vater begleichen, die Schulkosten für ihren Sohn. Dafür reichte der Lohn als Textilarbeiterin nicht. Mikrokredite schienen die Lösung. Jetzt sitzt Mai Chhen tief in der Schuldenfalle. 14'000 Dollar: Wird sie die je zurückzahlen können? «Ich schäme mich», sagt Bäuerin Heng Borey* «aber wir brauchen das Geld, um zu überleben». Zum Überleben. Um ihre Kreditschulden begleichen zu können, muss Heng Borey neue Kredite aufnehmen. Ein Teufelskreis. Mikrofinanz. Mikrokredite. Die Idee ist eigentlich einfach: Jemand bekommt etwas Geld, investiert es zum Beispiel in ein kleines Geschäft. Erzielt damit mehr Einkommen und zahlt den Kredit zurück. Nur: Die Realität sieht in Kambodscha oft anders aus. «Die Mikrofinanz ist ein Geschäft, das auf Gier basiert», sagt eine Kritikerin. «Mikrofinanzinstitute müssen rentabel sein», sagt der Branchenvertreter. Mikrokredite in Kambodscha. Sie sind weit verbreitet. Sind sie auch effektiv? Oder doch nur: Armut. Hoffnung. Schuldenfalle? * Namen geändert.
Sat, 25 Nov 2023 - 448 - Israel/Palästina – 100 Jahre Blut und Tränen
Als die palästinensisch-israelische Schriftstellerin Fida Jiryis vor zehn Jahren begann, ihre Familiengeschichte zu erforschen, ahnte sie nicht, welche alten Wunden diese in ihr aufreissen würde. Ihr Buch ist eine persönliche Chronik der Tragödie zweier Völker und zahlloser verpasster Chancen. * Mit zehn Jahren verlor Fida Jiryis ihre Mutter. Getötet wurde diese 1983 in einem Bombenanschlag in Beirut. Dorthin hatte sich der Krieg zwischen militanten Palästinensern und der israelischen Armee zwischenzeitlich verschoben. * Mit zehn Jahren erlebte Sabri Jiryis, der Vater der palästinensisch-israelischen Schriftstellerin, wie muslimische Dörfer rundum sein christliches Dorf Fassuta im Norden Palästinas, respektive Israels, verschwanden. * Mit zehn Jahren erlebt Jahid heute im Flüchtlingslager Dschenin im besetzten Westjordanland permanente Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis. Weil das Lager als Terror-Nest gilt, sind Razzien der israelischen Streitkräfte an der Tagesordnung. Der Junge sagt: «Früher habe ich geweint. Heute kommen mir nur noch die Tränen hoch, wenn es richtig hart wird.» Drei Generationen in einem Jahrhundert ohne Perspektive. In ihrem Buch «Fremde im eigenen Land» versucht Fida Jiryis herauszufinden, warum ihre Mutter so früh im Exil sterben musste, was ihren Vater einst antrieb, den bewaffneten Kampf gegen Israel gutzuheissen. Fida Jiryis scheut keine schmerzhaften Einsichten und macht Palästinenser und Israelis gleichermassen für verpasste Chancen und das endlose Leid verantwortlich. Angesichts der Wucht, mit welcher der Konflikt im Oktober wieder explodierte, wirkt ihre Chronik fast schon prophetisch. Die Reportage.
Sat, 18 Nov 2023 - 447 - Das Trauma sowjetischer Atomtests prägt Kasachstan bis heute
Die Sowjetunion zündete auf einem Testgelände in Kasachstan mehr als 450 Atombomben. Die Bewohnerinnen und Bewohner leiden bis heute unter der Verstrahlung. Auch Jahrzehnte nach den Tests prägt dieses Trauma die kasachische Gesellschaft und Politik. Lange wussten die Menschen im Nordosten Kasachstans nicht, was auf dem «Schiessplatz» draussen in der Steppe vor sich ging. Der Grund für die regelmässigen Explosionen, die riesige Pilzwolken erzeugten, war in der UdSSR ein Staatsgeheimnis. Schon bald gab es in der Region mehr Leukämiekranke, mehr Kinder kamen mit Behinderungen zur Welt oder wurden tot geboren. Die Sowjets konnten die Atomtests und ihre Folgen nicht dauerhaft verbergen. In den 1980er Jahren gelang es einer Bürgerbewegung, die Tests zu stoppen. Doch die Leute in der Region leiden immer noch unter den Spätfolgen. Das Erbe der Explosionen lastet bis heute schwer auf dem Land. Kasachstan erzeugt 80 Prozent seines Stroms mit Kohle. Das ist ineffizient und umweltschädlich. Darum möchte die Regierung ein Atomkraftwerk bauen. Als Partner für ein solches Projekt kommt auch Russland infrage. Aber selbst die autoritäre kasachische Elite muss auf die Bevölkerung hören – und die Atomkraft ist in der Bevölkerung höchst umstritten. Das Trauma der Atomtests wirkt im Volksgedächtnis nach.
Sat, 11 Nov 2023 - 446 - Schluss mit «Prachtnelken» - Japans Frauen wehren sich
Fast vierzig Jahre nach der formellen Gleichstellung bleiben die japanischen Frauen in Politik und Wirtschaft massiv untervertreten. Dahinter steckt ein sehr konservatives Rollenbild, das sich auch im Privaten hält. Doch die neue Generation fordert ihre Rechte ein, mit innovativen Ideen. «Nadeshiko» - wie die «Prachtnelken» sollten Japans Frauen sein: Anmutig, willensstark, dezent verführerisch, opferbereit und dreifach gehorsam – als Tochter dem Vater gegenüber, als Ehefrau dem Ehemann und als Mutter dem Sohn. Die Vorstellung stammt aus dem 19. Jahrhundert, doch sie hält sich hartnäckig in der männerdominierten japanischen Gesellschaft. Japan belegt im Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums Platz 125 von 146 Ländern. Manche Frauen fügen sich. Doch immer mehr kämpfen für Gleichstellung - in der Öffentlichkeit und zu Hause. Masako Shinohara unterstützt Studierende beim Einstieg ins Berufsleben. Auf ihrer Visitenkarte steht in dicken Lettern «Sag nein zum Sexismus bei der Jobsuche». «Viele Frauen heute tragen Hosen und Turnschuhe statt Rock und Pumps. Sie wollen ihre Persönlichkeit, nicht ihr Geschlecht darstellen. Also fühlen sie sich unwohl, wenn ihnen gesagt wird, sie müssten etwas tun, weil sie weiblich sind». Aktivistinnen wehren sich erfolgreich dagegen, dass Mädchen in Röcken zur Schule, Frauen im eng geschnittenen Kleid zum Vorstellungsgespräch und in Stöckelschuhen zur Arbeit erscheinen müssen. Erste Unternehmen richten Tagesstätten ein, wo Eltern ihre Kinder im Auge behalten können, während sie gleichzeitig ihre Berufsarbeit tun. Eine App, mit der Paare den Anteil der geleisteten Hausarbeit messen können, wurde fast eine Million Mal heruntergeladen. Und auch die Politik ist zur Kampfzone geworden. Hier ist das Missverhältnis besonders eklatant: Nur zehn Prozent der japanischen Abgeordneten sind Frauen – daran hat sich in den letzten Jahrzehnten nichts geändert. Auf lokaler Ebene sieht es nicht besser aus: nur zwei Prozent der Rathäuser werden von Frauen geleitet. Aber auch das soll sich jetzt ändern. Eine Gruppe kämpft dafür, dass die Hälfte der Parlamentssitze an Frauen gehen. Bei den letzten Regionalwahlen hatte sie erste Erfolge.
Sat, 04 Nov 2023 - 445 - Niederlande: Verseuchte Böden, ausgelaugte Politik
In den Niederlanden sind viele Böden überdüngt und mit Stickstoff verseucht. Darum wollte die Regierung Rutte Bauern davon überzeugen, ihre Höfe aufzugeben. Doch dieser Plan ist umstritten und erschüttert die niederländische Politik. Im Hafen von Rotterdam schwimmt ein Bauernhof. An Deck leben auf engem Raum 50 Milchkühe. Ein Sinnbild der niederländischen Landwirtschaft: viel Innovationskraft und wenig Feingefühl für Ökologie im Stall oder mehr Bio auf dem Teller. In den Niederlanden ist der Boden knapp und teuer. Darum setzt die Landwirtschaft seit jeher darauf, auf wenig Fläche hohe Renditen zu erzeugen. Dies ist aber nur möglich mit intensiver Landwirtschaft und viel Dünger, was die Böden auslaugt und mit Stickstoff verseucht. Langzeit-Premierminister Mark Rutte und seine Regierung reagierten darauf mit dem Plan, Bauern mit staatlichen Anreizen zum Aufgeben zu bewegen. Dieses Vorhaben aber erschütterte die niederländische Politik. Rutte trat zurück und nun sollen Neuwahlen einen Ausweg weisen. Der Besuch auf dem Bio-Hof von Jan Arie Koorevaar zeigt, wie man es eigentlich besser machen könnte. Allerdings ist die grossflächige Umstellung auf Bio schwierig. Denn hohe Bodenpreise und der Druck zu hoher Rentabilität stehen einer ökologischen Landwirtschaft im Weg.
Sat, 28 Oct 2023 - 444 - Zerstört Ägypten seine Kultur für Strassen und Hochhäuser?
Überall in Ägyptens Hauptstadt Kairo werden alte Viertel abgerissen, neue Schnellstraßen und Hochhäuser hochgezogen. So auch in der berühmten «Stadt der Toten», einem historischen Friedhof mit prächtigen Mausoleen. Menschen leben zwischen den Gräbern und fürchten, ihr Zuhause zu verlieren. Alte Ziegelsteine und Trümmer von einigen historischen Mausoleen liegen auf einem uralten Friedhof im Osten von Kairo. Denn hier sollen Strassen gebaut werden, mitten durch die «Stadt der Toten», die zum Teil UNESCO-Welterbe ist. Doch nicht nur Gräber müssen weg, sondern auch Menschen. Aufgrund der Wohnungsnot sind arme Familien in die Mausoleen gezogen. Sie leben, kochen und schlafen in den Grabstätten. Sie wollen sich nicht vertreiben lassen. Weil Kairo rasant wächst, brauche es neue Strassen und Wohnhäuser, sagen die Behörden und beteuern, es würden dafür keine Altertümer abgerissen, sondern nur einige normale Gräber weggenommen. Ägypten erlebt auch sonst einen ungezügelten Bauboom. Das wohl umstrittenste Projekt ist die neue Hauptstadt, die rund sechzig Kilometer östlich von Kairo in der Wüste entsteht - das größte Prestigeprojekt der ägyptischen Regierung, am Reißbrett entworfen. Der Staat baue aber nicht nur aus Prestigegründen und für die Entwicklung des Landes, sagen Beobachter. Ganz eigene Interesse verfolge auch das Militär. Dieses sei in fast allen wirtschaftlichen Bereichen aktiv. Bauprojekte seien eine wichtige Einnahmequelle.
Sat, 21 Oct 2023 - 443 - Wie der Kokainhandel Ecuador verwüstet
Das einst ruhige Land im Westen Südamerikas ist in den letzten Jahren zum neuen Hub für den globalen Kokainhandel geworden. Exportiert wird vor allem nach Europa. Die Drogenschwemme hat das Land verändert, Ecuador erlebt eine Welle der Gewalt. Das prägt auch die aktuellen Präsidentschaftswahlen. Praktisch jede Woche wird in europäischen Häfen Kokain beschlagnahmt. Viel davon kommt als illegale Fracht in Bananen-Kisten, die aus Ecuador stammen, dem neuen Umschlagplatz für Kokain. Das weisse Pulver stammt aus den beiden weltweit grössten drogenproduzierenden Ländern, Kolumbien und Peru, und wird über Ecuador exportiert. Kartelle aus Mexiko und dem Balkan haben sich mit Ex-Guerilleros, mit Gefängnis- und Strassenbanden zusammengetan und eine Welle der Gewalt ausgelöst: Mindestens 4500 Menschen wurden vergangenes Jahr ermordet. Kinder werden von den Banden rekrutiert, Journalisten und Journalistinnen fliehen wegen Morddrohungen ins Exil, Gefängnisse sind Brutstätten der Kriminalität. Die Gewalt überschattet auch die aktuellen Präsidentschaftswahlen; die Stichwahl ist am 15. Oktober. Der aussichtsreiche Kandidat Fernando Villavicencio wurde vor dem ersten Wahlgang Anfang August nach einer Wahlkampfveranstaltung erschossen. Als Journalist und Parlamentarier hatte er immer wieder die weitverbreitete Korruption im Land kritisiert und vor dem Einfluss der organisierten Kriminalität gewarnt. Das kleine Land ist mit der Situation überfordert.
Sat, 14 Oct 2023 - 442 - Saudi-Arabien wappnet sich für die Zeit nach dem Öl
Öl hat Saudi-Arabien reich gemacht. Doch das Ende der bisherigen Geldquelle ist absehbar. Mit einer Reihe von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen will sich das Königreich daher für die Zukunft rüsten. Die Frage ist: Kann das gelingen? «Vision 2030» heisst das Reformpaket. Es soll die Saudische Gesellschaft modernisieren, die Abhängigkeit vom Öl reduzieren sowie ausländische Investitionen anlocken. Der Kopf hinter der «Vision 2030» ist Kronprinz Mohammed Bin-Salman, der starke Mann der absolutistischen Erbmonarchie. Seit er an der Macht ist, hat es eine Reihe von Liberalisierungen gegeben. Frauen dürfen wieder Autofahren, in Kinos und Cafés dürfen neu unverheiratete Frauen und Männer gemeinsam Zeit verbringen. Auch auf dem Arbeitsmarkt dürfen Frauen mittlerweile in Berufen arbeiten, die bis vor ein paar Jahren nur den Männern offen standen. Während viele, vor allem junge Frauen in den urbanen Zentren, die Reformen begrüssen, kritisieren Aktivistinnen, dass dabei vielmehr wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen statt die Stärkung von Frauenrechten. Sie verweisen auf die weiterhin inhaftierten Aktivistinnen. Tempo und Inhalt der Reformen würden von oben, von Mohammed Bin Salman, vorgegeben. Ihm geht es dabei auch um die langfristige Machtsicherung des Königshauses. Saudi-Arabien ist eine absolutistische Erbmonarchie, freie Meinungsäusserung ist nicht möglich. Bisher garantierten die Öleinnahmen vielen Saudis ein angenehmes Leben in Wohlstand, im Gegenzug wurde der Herrschaftsanspruch der Königsfamilie nicht in Frage gestellt. Damit dies in Zukunft so bleibt versucht Mohammed Bin Salman die Wirtschat breiter aufzustellen. Immense Investitionen in die Unterhaltungsindustrie sollen – gemeinsam mit den gesellschaftlichen Liberalisierungen – seine junge Bevölkerung bei Laune halten. Das alles gehört genauso zu seiner «Vision 2030» wie der Bau futuristischer Städte mitten in der Wüste und weitere fantastische Grossprojekte. All das ist bisher erst ein Versprechen für eine glänzende Zukunft, und für das Königshaus auch eine grosse Wette. Geht sie auf, so soll die Erbmonarchie noch lange Zeit weiterbestehen. Im Gegenzug soll die Bevölkerung weiterhin am wirtschaftlichen Reichtum teilhaben können.
Sat, 07 Oct 2023 - 441 - «Sacklzement nomoi»: Annäherung an die bayerische Seele
«Immer wieder diese Bayern» denken viele im Rest der Republik. Bayern fühlen sich als etwas Besonderes und ragen vielerorts auch heraus. Zwar hat die CSU längst an Zuspruch verloren, aber Heimatverbundenheit kennt eben keine Parteifarben. Reportage auf der Suche nach der bayerischen Seele. «Für die Bayern wäre es vielleicht sinnvoller, wenn sie manchmal etwas zurückhaltender agieren täten». Das sagt Professor Heinrich Oberreuter mit Blick auf den zur Schau getragenen Stolz. Tradition und Modernisierung haben den Freistaat weit gebracht. Die Politik bleibt allerdings Männersache. Kabarettistin Luise Kinseher wurde mit Hass eingedeckt, als sie als erste Frau beim Starkbierfest auf dem Nockherberg die bissige Spottrede gegen die politische Elite halten durfte. Ihre Auftritte als «Mama Bavaria» haben sie dennoch zu einem Teil der bayerischen Heimat gemacht. Wie die dominante CSU in Universitätsstädten an Zustimmung verlor, zeigt die Reise nach Passau und die Suche nach der bayerischen Seele führt zu Musiker Christoph Well. Er hatte mit der legendären «Biermösl Blosn» die Volksmusik einst modernisiert und mit satirischen Texten die Konservativen geschockt. «Stofferl» Well kennt den Klang Bayerns und setzt sich dafür auch an die Harfe. CSU-Ministerpräsident Markus Söder definiert im aktuellen Landtagswahlkampf gleich selbst, was bayerisch ist. «Bayern ist fast zu schön, um wahr zu sein», beobachtet Publizistin Anna Clauss und erklärt diese «Mischung aus Wunderland und Schurkenstaat».
Sat, 30 Sep 2023 - 440 - Argentinien: Inflations-Chaos und Anarcho-Kapitalismus
Die Preise explodieren, die Auslandschulden sind enorm. Argentinien findet nicht aus seiner schweren Wirtschaftskrise. Das Vertrauen in die politischen Eliten ist dahin. Profitiert davon bei den Wahlen im Oktober ein exzentrischer Populist vom rechten politischen Rand? «Ich kandidiere nicht, um eine Schafherde anzuführen - ich kandidiere, um Löwen aufzuwecken. Lang lebe die Freiheit, verdammt!» schmettert Javier Milei, Ökonom und Populist. Mileis Ideen sind radikal: Er sagt von sich selbst, er sei ein Anarchokapitalist. Der 52-jährige Rechtsaussenpolitiker schwärmt von einem Argentinien, in dem der Markt alles bestimmt. Milei trat zuerst als Ökonom im Fernsehen mit seinem ultra-liberalen Diskurs auf. Er sagte, die Zentralbank gehöre in die Luft gesprengt. Oder: Die Mafia sei ihm lieber als der argentinische Staat, weil die Mafia den Wettbewerb suche. Doch nun bewirbt sich der politische Selbstdarsteller ausgerechnet für den Posten als Regierungschef ebendieses Staates. Bei den landesweiten Vorwahlen holte er mit seinen radikalen Ideen rund 30 Prozent der Stimmen, mehr als jeder anderer Kandidat. «Die Leute hoffen auf einen Neuanfang», bringt Experte Pablo Stefanoni das Phänomen Javier Milei auf den Punkt. Tatsächlich haben nach Jahrzehnten der Krisen viele das Vertrauen in die Politik verloren. «Wir brauchen Veränderung, so kann das nicht weitergehen», sagt etwa der 71-jährige Händler Roberto in Buenos Aires. «Unsere Kinder gehen nach Europa, wenn wir die Inflation unter Kontrolle bringen würden, kämen sie zurück». Er will dem Rechtspopulisten Milei eine Chance geben. Ökonom Leandro Mora Alfonsín dagegen hofft, dass der aktuelle Wirtschaftsminister, Sergio Massa, die Wahlen gewinnt. Die demokratischen Institutionen dürften nicht geschwächt, sie müssten gestärkt werden. Argentinien sei im Grunde eine leistungsfähige Volkswirtschaft mit grossem Potential auch für den Export, ist der Ökonom überzeugt. Doch bis jetzt sind mit jeder neuen Krise mehr Argentinierinnen und Argentinier durch die Maschen des Systems gefallen. Das Land feiert 40 Jahre Demokratie nach dem Ende der Diktatur der Militärjunta. Ausgerechnet im Jubeljahr ist ein Rechtsaussenkandidat überzeugt davon, dass er die Macht erlangen kann.
Sat, 23 Sep 2023 - 439 - Opioide in den USA: Der lange Kampf gegen die tödliche Sucht
Die Drogenkrise in den USA ist eskaliert: Allein letztes Jahr starben weit über 100 000 Menschen an einer Überdosis. Das Opioid Fentanyl ist zur richtigen Killerdroge geworden. Ein Besuch im Bundesstaat West Virginia zeigt: Neue Wege wären gefragt, doch das Umdenken findet erst langsam statt. Ausgelöst wurde die Krise vor über 20 Jahren durch verschreibungspflichte Schmerzmittel: Opioidpillen wie «Oxycontin», die aggressiv vermarktet wurden. Das Versprechen der Hersteller, die neuen Pillen machten kaum abhängig, erwies sich als falsch – und führte in eine Katastrophe. Besonders früh und hart getroffen wurden ländliche Gebiete: wirtschaftlich abgehängte Landstriche wie West Virginia. Die abgelegenen Täler im Appalachen-Gebirge boten der Opioidkrise den Nährboden. West Virginia wurde von den Schmerzpillen regelrecht überflutet. Doch längst hat die Opioidkrise auch die Städte erfasst, wie die offenen Drogenszenen eindrücklich zeigen. Und die Krise ist eskaliert: Als es schwieriger wurde, an verschreibungspflichtige Pillen zu kommen, boten Drogendealer die illegale Alternative: Heroin, seit etwa 2013 auch das synthetische Opioid Fentanyl, das die Zahl der Toten stark nach oben trieb. Die Krise ist eskaliert – und die Covid-Pandemie hat sie zusätzlich verschlimmert. Die Behörden sprechen längst von einer Opioid-Epidemie. Und die Krise hat sich gewandelt, auch am Epizentrum, in West Virginia: Sucht, Obdachlosigkeit und psychische Krankheiten gehen Hand in Hand. Wer Strassendrogen nimmt, weiss vielleicht gar nicht, dass er Fentanyl nimmt – oder das Tierberuhigungsmittel Xylazin, das den Drogen seit einiger Zeit beigemischt wird. Jene, die versuchen, gegen das Elend anzukämpfen, sind vor allem damit beschäftigt, Leben zu retten: Sie verteilen saubere Spritzen, HIV-Tests oder den Nasenspray Narcan. Dieser kann Menschen nach einer Überdosis wieder aufwecken, und sie so vor dem Tod bewahren. Expertinnen sagen, es brauche mehr Schadensminderung, es sei etwa nötig saubere Spritzen zu verteilen, um die Süchtigen vor HIV oder Hepatitis zu schützen. Es gebe zu wenig Therapieplätze mit Ersatzsubstanzen wie Methadon, gerade in Bundesstaaten wie West Virginia, wo solche Therapien am dringendsten gebraucht würden. Dinge wie Drogenkonsumräume oder die staatlich kontrollierte Drogenabgabe gibt es kaum oder gar nicht. Nach Jahrzenten des «Krieges gegen die Drogen», scheinen die USA nur zögerlich wegzukommen von der Politik der harten Hand. Das Sterben geht derweil weit. Der Schaden ist immens, der menschliche, aber auch der wirtschaftliche.
Sat, 16 Sep 2023 - 438 - Weggesperrt und verstummt: Die Demokratie-Bewegung in Hongkong
Bis zu zwei Millionen Menschen gingen 2019 in Hongkong auf die Strasse, kämpften lauthals für mehr Demokratie und Mitbestimmung. Doch die Regierung brachte die Aufständischen zum Schweigen, tausende büssen heute dafür im Gefängnis. Trotz aller Ernüchterung hoffen viele weiter auf mehr Freiheit. Ein Land, zwei Systeme: So lautete das Versprechen Chinas, als es vor über 25 Jahren Hongkong von Grossbritannien übernahm. In der Sonderverwaltungszone sollten Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit herrschen. Doch die Realität sieht anders aus: Die Behörden gehen gegen mögliche Oppositionelle vor, China nimmt zunehmend direkten Einfluss auf die Hongkonger Politik. 2019 führte ein geplantes Gesetz zu monatelangen Massenprotesten. Nicht einmal die harte Repression der Regierung schien die Protestierenden stoppen zu können. Bis die Covid-Pandemie kam und mit den strengen Massnahmen den Aufstand beendete. Wo steht die Hongkonger Pro-Demokratie-Bewegung heute? Viele der Aufständischen haben ihren Protest aufgegeben, sitzen im Gefängnis oder warten noch auf ihren Prozess. So wie Krankpfleger John, der mit einer bis zu sechsjährigen Haftstrafe rechnen muss. Andere sind verstummt, wagen es nicht mehr, sich öffentlich zu exponieren. Wie Bloggerin Emilia, die zwar über soziale Anliegen schreibt, nicht aber über politische Themen. Ihre Zukunft liegt zwischen Resignation, Rückzug ins innere Exil und leiser Hoffnung auf Veränderung.
Sat, 09 Sep 2023 - 437 - Im Fadenkreuz: Wie gross ist Chinas Einfluss in Griechenland?
Seit der griechische Hafen Piräus in chinesischer Hand ist, spielt er in der obersten Liga Europas. Doch der Verkauf des strategisch wichtigen Hafens ist umstritten. Und China ist nicht der einzige grosse Player im Land. Griechenland liegt im Fokus geostrategischer Interessen. Piräus liegt zwar 7625 Kilometer Luftlinie von Peking entfernt. Der chinesische Staatschef Xi Jinping bezeichnet den Hafen dennoch als «Kopf des chinesischen Drachens». Für die neue chinesische Seidenstrasse ist Piräus das entscheidende Tor zum Westen, während Griechenland und die lokale Wirtschaft kaum von dem Verkauf profitieren. Jede Schraube werde aus China importiert, klagen sie. Und in Zeiten des Krieges in der Ukraine und der Spannungen zwischen China und Taiwan wird die Privatisierung des Hafens heute anders als früher beurteilt. Gleichzeitig wächst das militärische Interesse der USA und auch der Nato an Griechenland, und das Land wird auch für die Wirtschaft der EU wichtiger: In Kozani in Westmakedonien findet mit Unterstützung der EU ein spektakulärer Wandel in Sachen Stromerzeugung statt: von Kohle- zu Sonnenenergie.
Sat, 02 Sep 2023 - 436 - Lwiw: eine Stadt zwischen Alltag und Trauma
In der westukrainischen Stadt Lwiw bricht der Krieg nur ab und zu in den Alltag ein. Doch unter der Oberfläche von scheinbarer Leichtigkeit liegen Schmerz und Trauer. Lwiw, das frühere Lemberg, ist reich an architektonischer Schönheit und zieht seit jeher Reisende an. Im Krieg aber wurde Lwiw zu einer Durchgangsstation auf der Flucht nach Westen. Für viele ist die Stadt auch eine sichere Zuflucht im eigenen Land, weil hier weniger Bomben fallen. In den malerischen Gassen der Altstadt spürt man viel Normalität. So sind die Museen wieder offen, es finden Stadtführungen statt und Leute aus Kiew oder dem Osten der Ukraine erholen sich hier oder fangen neu an. Daneben sind in Lwiw aber auch die Schrecken des Kriegs deutlich spürbar. Es kommen Konvois mit Verletzten an. Es sind Versehrte aus den Kampfgebieten, die man hier behandelt. Die meisten benötigen Prothesen. Und jeden Tag werden Gefallene beerdigt. Viele stellen sich die bange Frage: überleben wir das?
Sat, 26 Aug 2023 - 435 - «Best of»: Die Magie der britischen Monarchie
Die Welt wird nach London blicken, wenn Charles III. am 6. Mai in der Westminster Abbey gekrönt wird. Seit Jahrhunderten bildet die Monarchie das Rückgrat des Vereinigten Königreiches. Doch sie hat an Zuspruch verloren, und nicht wenige glauben mittlerweile, dass man sie auch abschaffen könnte. Hinter den Kulissen werden politische Entscheide gefällt, während die Königsfamilie auf der grossen Bühne das Volk glanzvoll und würdig bei Laune hält. So beschrieb der britische Verfassungstheoretiker Walter Bagehot im 19. Jahrhundert die Rolle der Monarchie in der britischen Politik. Doch die Zeiten haben sich verändert, die Vererbung von Titeln und Privilegien sind im 21. Jahrhundert verpönt. Zudem hat das Ansehen der Königsfamilie gelitten, und gerade unter jungen Britinnen und Briten glauben nicht wenige, dass die britische Monarchie mit ihren jahrhundertealten Traditionen und Ritualen ihre Daseinsberechtigung verloren hat. Die Sendung «International - Die Magie der britischen Monarchie» lässt sowohl Royalistinnen als auch Republikaner zu Wort kommen und erörtert die künftige Rolle des neuen König Charles III. sowie die Herausforderungen, die ihn erwarten. (Erstausstrahlung: 29. April 2023)
Sat, 19 Aug 2023 - 434 - «Best of»: Südossetien, Georgien und Russland
Wenn zwei sich streiten, übernimmt der Dritte die Kontrolle. In diesem Fall Russland. Das schon in den 1990er Jahren Truppen nach Georgien schickte, um die Separatisten der selbsternannten Republik Südossetien zu schützen. Jahrhundertelang lebten Georgierinnen und Osseten Seite an Seite. Nach dem Fall der Sowjetunion kochten latente Feindseligkeiten hoch, bis zu blutigen Kämpfen zwischen ossetischen Separatisten und georgischen Truppen. Georgiens mächtiger Nachbar Russland stellte sich auf die Seite der Separatisten, und bis heute sind die russischen Soldaten geblieben. Sie erobern im Namen Südossetiens immer mehr georgisches Gebiet. Georgier fürchten, es könnte ihnen wie den Ukrainern ergehen. Im georgischen Dorf Gremiskhevi hat die Bevölkerung Angst. Die Dorfbewohnerinnen klagen über Entführungen durch die russischen Truppen. Ein Trupp georgischer Männer beobachtet, wie russische Soldaten durch den Wald schleichen. Die georgische Dorfbevölkerung traut sich schon gar nicht mehr in die Nähe der Grenzlinie. Diese sei gar nicht richtig markiert, erzählt Tsisana, die erzählt, wie sie selbst entführt worden sei. Ein vernachlässigter Friedhof in Grenznähe zeugt von der Angst der Dorfbewohner, und auch von dem Leid, den der blutige Konflikt auf beiden Seiten hinterlassen hat. Auf der georgischen Seite verdrängen viele ihren Anteil am ethnischen Konflikt, sie geben dafür Russland die Hauptschuld. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sehen sie sich bestätigt: wäre da keine imperialistische Grossmacht, wäre zwischen Osseten und Georgiern ein Frieden möglich. So einfach ist die Wirklichkeit jedoch nicht. (Erstausstrahlung: 22 April 2023)
Sat, 12 Aug 2023 - 433 - «Best of»: Frauen in Afghanistan
Vor gut eineinhalb Jahren haben die Taliban in Afghanistan die Macht zurückerobert. Seitdem haben sie im selbsternannten islamischen Emirat eines der repressivsten Regime weltweit eingeführt. Darunter leiden besonders Mädchen und Frauen. Die Medizinstudentin Husna war im Abschlussexamen, als sie Ende Dezember die Schreckensnachricht erreichte: Ab sofort dürfe sie nicht mehr studieren. Seitdem sitzt die hochbegabte 20-Jährige frustriert und hoffnungslos zu Hause, wie Millionen andere afghanische Frauen. Es war der vorerst letzte Streich der islamisch-fundamentalistischen Taliban im Kampf gegen Frauen und Mädchen. Die Verbotsliste ist seit der Machtübernahme immer länger geworden: Mädchen dürfen ab der siebten Klasse nicht mehr zur Schule, die meisten Frauen nicht mehr arbeiten, nicht mehr die Universität besuchen, nicht mehr für Nichtregierungsorganisationen arbeiten und nicht einmal mehr Parks und Fitnesscenter besuchen. Die wenigen Frauen, die sich wehren oder gar demonstrieren, werden niedergeknüppelt oder ins Gefängnis geworfen. Weil das ein gravierender Verstoss gegen Menschenrechte ist, hat die internationale Gemeinschaft die Reserven der afghanischen Zentralbank eingefroren und Sanktionen verhängt - was die Wirtschaftskrise in Afghanistan massiv verschärft und die Zahl der Hungernden weiter erhöht hat. Während die Taliban-Führung in Kandahar an den strikten Verboten festhält, wird die Kritik an den Bildungsverboten für Frauen bei hohen Offiziellen in Kabul lauter. (Erstausstrahlung: 1. April 2023)
Sat, 05 Aug 2023 - 432 - «Best of»: Äthiopien: Die Wunden des Tigray-Krieges
Zwei Jahre wurde in der Region Tigray im Norden Äthiopiens gekämpft. Wenig drang in der Zeit nach aussen, die Zentralregierung hatte Telefon und Internet blockiert. Nun sind Reisen nach Tigray wieder möglich. Unser Afrikakorrespondent begegnete erleichterten, aber schwer traumatisierten Menschen. Da ist etwa der junge Aradom, ein schmächtiger Informatiker mit Bart. Er hat für die Tigray gekämpft und erzählt, wie sie Äthiopiens Armee besiegten und den Krieg doch verloren. Er ist traumatisiert, arbeitslos, hängt mit Freunden in einer Bar herum und versucht zu vergessen. Da ist eine Mutter, die von Soldaten vergewaltigt wurde, als sie ihr Eigentum vor Plünderung beschützen wollte. Von ihrem Mann hat sie schon lange nichts mehr gehört, die Kinder werden wohl ohne Vater aufwachsen müssen. Eine alte Frau hat nur ein paar Weizenkörner, die sie ihren hungrigen Enkelkindern zubereiten kann. Während des Krieges war es noch schlimmer, erzählt sie. Hunger und Unterernährung sind ein riesiges Problem. Wir begegnen einem Lehrer, der ohne Lohn versucht, in einer Primarschule wieder zu unterrichten, unter widrigsten Umständen. Er hat leise Hoffnung, dass es wieder einen Alltag geben wird. Und da ist ein führender Kader der alten Garde der TPLF-Rebellen. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, mit der Zentralregierung ein ungünstiges Waffenstillstandsabkommen geschlossen zu haben. Mit dem grausamen Krieg haben die Rebellen nichts gewonnen. Hunderttausende aber haben ihr Leben oder ihre Existenz verloren. (Erstausstrahlung: 25. März 2023)
Sat, 29 Jul 2023 - 431 - «Best of»: Currywurst mit den Deutschen
Fleisch gehört zur deutschen Identität. Egal ob Wurst oder Schnitzel, gegessen werden gerne üppige Portionen vor allem billigen Schweinefleischs. Eine hocheffiziente Fleischproduktion und Billiglöhne sorgen für günstigen Nachschub. Doch Ansprüche an Moral und Qualität stellen Omas Rezepte in Frage. «Super, wirklich super» schwärmt Michael Wagner mit vollem Mund von der Currywurst, die er mitten auf einer Kreuzung in Berlin auf die Schnelle isst. Im Imbissstand bereitet Tarek die Würste im Stakkato zu. Viele Deutsche lieben schnelles, billiges Essen und Fleisch gehört einfach dazu. Schon die alten Römer fanden, dass die Germanen keine ausgeprägte Esskultur haben. Das schlichte Essen gehört zur deutschen Identität und Fleisch wurde zum Kulturgut. Seine Verfügbarkeit für alle sorgte einst für politische Stabilität. Landwirte wie Henning Kock produzieren günstiges Schweinefleisch. Im sogenannten «Schweinegürtel», einer Region südwestlich von Bremen, hält er 2600 Tiere. Sie sind genetisch so veranlagt, dass sie sich trotz dauernder Verfügbarkeit von Futter nicht überfressen und rund 900 Gramm pro Tag zulegen. Mit Fleisch verdient auch Alina Henrici ihr Leben. In ihrer Metzgerei in Hessen lädt sie Kinder in die Wurstküche ein, damit diese verstehen, dass die Wurst nicht vom Discounter, sondern vom Tier kommt. Für viele ist Fleisch nicht wegzudenken. Doch nun streicht Freiburg im Breisgau das Fleisch vom Menu der Grundschulen und Kitas. Die Aufregung ist gross. (Erstausstrahlung: 4. März 2023)
Sat, 22 Jul 2023 - 430 - «Best of»: Libanon – «Warum machen sie uns zu Kriminellen?»
Kaum volljährig geworden, merkte die libanesische Nachkriegsgeneration, dass etwas in ihrem Staat faul war. Als sie 2015 auf die Strasse ging, um gegen die korrupte Machtelite zu demonstrieren, war es jedoch bereits zu spät. Der Staat war bankrott. Im kleinen Mittelmeerstaat kämpfen inzwischen viele um ihre Existenz. Selbst die einstige Mittelschicht ist betroffen. Seit drei Jahren darf sie ihr Geld auf der Bank nicht holen. Und wegen der horrenden Inflation reichen ihre Saläre nicht mehr zum Überleben. Die Not treibt manche in die Kriminalität. Sally Hafez, 28, stammt aus einer Mittelstandsfamilie in Beirut. Sie hatte einen guten Job, Geld für Kleider, Reisen und ein Auto. Gleichzeitig dauerten die täglichen Stromausfälle in Beirut immer länger, das Trinkwasser war verschmutzt, der Abfall stapelte sich in den Strassen. Die junge Libanesin begann, wie viele ihrer Generation, Fragen zu stellen, und einen Systemwechsel zu fordern. Als die Korruption aufflog und das ganze System wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, schuf die politische Elite Milliarden ausser Landes. Gleichzeitig beschränkte sie Bankenbezüge fürs Volk auf einen lächerlich kleinen Betrag. Als ihre krebskranke Schwester eine lebensrettende Operation brauchte, wollte Sally Hafez dafür Geld von ihrem Sparkonto abheben. Die Bank weigerte sich, ihr das Geld zu geben. Eines Tages überfiel die junge Frau ihre Quartierbank, um das Geld für ihre Schwester zu holen. Eine Überlebensgeschichte aus einem gescheiterten Staat. In dem selbst Anwältinnen und Richter verarmen. (Erstausstrahlung: 14. Januar 2023)
Sat, 15 Jul 2023 - 429 - «Best of»: Amoklauf in Newtown: Aktivismus und Trauma
In Newtown geschah vor zehn Jahren das Unvorstellbare: Ein Amokläufer tötete in einer Schule 26 Menschen, darunter 20 Kinder. Zurück blieben eine traumatisierte Gemeinde - und Eltern, die zu Aktivisten wurden. Da ist etwa Mark Barden. Sein sechsjähriger Sohn wurde damals im Schulhaus erschossen. Bis heute quält Barden der Gedanke, dass sein kleiner Bub einsam und allein sterben musste - weil der Täter so leicht Zugang hatte zu einer tödlichen Waffe. Die Tat hat in den USA eine heftige Debatte über Waffengewalt ausgelöst. Präsident Obama reiste damals nach Newtown, während der rechte Verschwörungstheoretiker Alex Jones behauptete, der Amoklauf habe gar nie stattgefunden. Die Waffengewalt ist derweil zu einer Art Epidemie geworden in den USA: So viele Menschen wie nie zuvor starben 2020 durch Schusswaffen: gut 45 000. Schusswaffen sind bei Kindern inzwischen die häufigste Todesursache. Vater Mark Barden hat nach dem Tod seines Sohnes eine Organisation gegründet, die versucht, Amokläufe zu verhindern. Er engagiert sich vor allem in der Prävention. Schüler:innen und Lehrpersonen sollen Warnzeichen bei potenziellen Tätern erkennen und rechtzeitig Hilfe suchen. Zudem kämpft Barden - wie viele andere Menschen in Newtown - für schärfere Waffengesetze, ein schwieriges Unterfangen, weil Amerikas Konservative den praktisch unbegrenzten Zugang zu Schusswaffen für ein Grundrecht halten. In der Sendung kommen auch zu Wort: Teenager, die als Kinder den Amoklauf von Newtown überlebt haben sowie Matthew Crebbin, ein örtlicher Priester. Er versucht seit dem Amoklauf, den Schmerz in seiner Gemeinde zu lindern. (Erstausstrahlung: 11. März 2023)
Sat, 08 Jul 2023 - 428 - Chiles Hauptstadt geht das Wasser aus
Auch in Chile wird es immer heisser und trockener. Seit vielen Jahren herrscht eine extreme Dürre in dem südamerikanischen Land. Besonders betroffen ist die Region um die Hauptstadt Santiago. Dort wird das Wasser immer knapper. Die Aussichten sind prekär. Eigentlich sollte Trinkwasser kein Problem sein in Chile. Das Land ist durchzogen von Flüssen, die sich aus dem Schmelzwasser der Anden speisen. Aber seit mehr als zehn Jahren hat es nicht mehr ausreichend geregnet, und die Gletscher schrumpfen. Chile ist ausserdem eines der wenigen Länder weltweit, in denen das Wasser fast vollständig privatisiert ist. Und: Die Industrie verbraucht viel von dem kostbaren Nass, insbesondere die für das Land wichtige Minenindustrie. Gleichzeitig nimmt auch die Intensität und Zahl von Hitzewellen zu. Für viele Menschen ist das eine prekäre Situation. Einige wandern sogar ab, in andere Städte oder in die Provinz. Es gibt inzwischen zahlreiche Ideen und Bemühungen, um die Millionenmetropole Santiago davor zu bewahren, dass ihr das Wasser ausgeht. So gibt es Pläne für die Rationierung von Wasser, Bäume werden gepflanzt. Man könnte Meerwasser entsalzen und das Abwasser besser nutzen. Aber ob das genügen wird, damit Santiago überleben kann, ist ungewiss.
Sat, 01 Jul 2023 - 427 - Taiwan zwischen Kriegsangst und Abgrenzung
Die Volksrepublik China beansprucht das kleine Taiwan als Teil ihres Herrschaftsgebiets. Peking unterstreicht den Anspruch auf die Insel regelmässig mit martialischen Drohungen. Dies schürt Ängste in der Bevölkerung und schärft zugleich die taiwanesische Identität. Eine Reportage. Die Computerfachfrau Doris lernt Druckverbände setzen, um Wunden zu stillen. Jedes Wochenende treffen sich die Freiwilligen zum Zivilschutzkurs - Vorbereitung auf den Ernstfall in der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh. Den Hintergrund bildet das Säbelrasseln der chinesischen Führung in Peking. Sie betrachtet die vorgelagerte Insel als abtrünnige Provinz. Auch die Armee Taiwans hat aufgerüstet und zählt auf das Beistandsversprechen der USA. Doch Washington vollführt diplomatische Pirouetten, um sich nicht eindeutig festlegen zu müssen. Die Volksrepublik China greift bereits tief in die Wirtschaft der Insel ein. Zum Beispiel in die Apfelproduktion von Bauer Chen. Mit Importverboten versucht China, die pekingfeindliche Regierung Taiwans zu bestrafen und pekingfreundliche Kräfte in der taiwanesischen Gesellschaft zu stützen. Bauer Chen ist deswegen ein wichtiger Teil seines Geschäfts weggebrochen. Der Druck aus Peking stärkt die taiwanesische Identität. Doch über den richtigen Kurs gegenüber der Grossmacht mit ihren Ansprüchen herrscht auf der Insel keine Einigkeit. Reportage über taiwanesisches Alltagsleben zwischen Abgrenzung und Angst vor dem übermächtigen Nachbarn.
Sat, 24 Jun 2023 - 426 - Hawaii - das gefährdete Ferienparadies
Hawaii fürchtet die Folgen des Klimawandels. Zugleich bedroht der Massentourismus die spektakulären Naturlandschaften der Inselgruppe, und damit die Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung. Am Sunset-Beach an der Nordküste der Insel Oahu kippten erste Häuser ins Meer. Zum Traumblick auf die untergehende Sonne kommt seither in dem Surferparadies die Angst hinzu vor den grossen Wellen, die unter den Strandhäusern den Boden wegspülen. Doch nicht nur der steigende Meeresspiegel und die Erosion von Sand und Sediment sind eine Bedrohung für Hawaii: Nicht-heimische Pflanzenarten breiten sich massiv aus und bringen die vielfältigen Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, während draussen im Pazifik zwischen Hawaii und Japan der grösste Strudel von Plastikmüll der Welt treibt. Der Massentourismus wirft zugleich die Frage nach der Dauerhaftigkeit der Lebensgrundlagen des US-Bundesstaats auf. Klare Antworten fehlen. Die Tourismusbehörde von Hawaii spricht zwar von der Notwendigkeit eines nachhaltigeren Tourismus, vor Besuchsobergrenzen schreckt das pazifische Ferienparadies aber zurück.
Sat, 17 Jun 2023 - 425 - Venezuela – Die Kunst des Überlebens
Die Wirtschaft in Venezuela ist am Boden und die Inflation frisst die Löhne weg. Für viele ist der Alltag ein täglicher Überlebenskampf. Doch trotz der allgegenwertigen Armut sitzt das Regime rund um Nicolás Maduro fester im Sattel denn je. Venezuela verfügt über die grössten Erdölreserven der Welt. Doch die Menschen profitieren kaum davon. Das Benzin ist teuer, viele müssen es sich daher auf dem Schwarzmarkt besorgen. Das gilt auch für andere grundlegende Konsumgüter: Zwar kann man sie kaufen, doch leisten, können es sich die meisten nicht. Zwar sind die Zeiten der Hyperinflation vorerst vorbei, doch noch immer steigen die Kurse täglich an: «Als ich vor zwei Monaten ankam, war der Dollar bei 9 Bolivares, heute muss ich 19 Bolivares für einen Dollar zahlen », sagt Danny Canuizalez. Wie viele andere ist er vor ein paar Jahren ausgewandert, um woanders sein Glück zu finden. Nun ist er erstmals wieder auf Besuch zu Hause. Zu den hohen Preisen kommt ein Staatsversagen dazu. Selbst grundlegende Dienstleistungen wie Strom und Wasser funktionieren nicht. In Venezuela hat sich daher eine Art Überlebenskapitalismus verbreitet. Alle wollen etwas verkaufen oder irgendwo ein Schnäppchen erziehen. Das wenige Geld, das die Menschen so verdienen, wird so schnell wie möglich in Dollar getauscht. Parallel zu diesem täglichen Überlebenskampf hat sich eine kleine, sehr vermögende Schicht gebildet. Diese Günstlinge des Regimes verkehren in hippen Cafés und modernen Shoppingcentern in den teuren Quartieren von Caracas. Dort gibt es Parfüms für 100 Dollar zu kaufen. Das ist mehr, als eine Lehrerin im Jahr verdient. Paradoxerweise ist Venezuela offiziell sozialistisch. Doch die Schere zwischen Arm und Reich ist in Südamerika nirgends so gross wie hier. Schätzungsweise 94 Prozent der Bevölkerung gilt als arm. Und doch sitzt die Regierung rund um Nicolás Maduro so fest im Sattel wie seit Jahren nicht mehr.
Sat, 10 Jun 2023 - 424 - Israel – Der jüdische Staat ringt um seine Seele
Seit Mitte Januar demonstrieren in Israel einige Hunderttausend Menschen gegen die geplante Justizreform ihrer Regierung. Die grössten Demonstrationen finden jeden Samstagabend in Tel Aviv statt, aber auch in anderen Städten gibt es Protestveranstaltungen. Die Angst dieser Leute: Premier Benjamin Netanjahus Regierung sei daran, Israel in eine Diktatur zu verwandeln. «Demokratie! Demokratie!» skandieren sie. Netanjahus Anhängerschaft versteht den Aufruhr nicht. Sie haben konservative, religiöse und sogar rechtsextreme Parteien gewählt, und sie stellen die Mehrheit im Parlament. «Die Mehrheit befiehlt!», finden sie, und halten die Demonstrierenden nicht nur für schlechte Verlierer, sondern für die Elite, welche sich ihre Macht durch die Gerichte sichern und dabei die demokratisch gewählte Mehrheit im Parlament übergehen wolle. Der Streit um die geplante Justizreform spaltet selbst Familien. Der Restaurantbesitzer und siebenfache Vater Ori Melamed erzählt, wie seine Verwandte und Freunde jede Woche demonstrieren und kaum noch mit ihm reden. Weil er politisch rechts steht und religiös ist. Amit Nachmany, eine zweifache Mutter, welche als Armeekommandantin Soldaten auf Waffensystemen trainiert hat, demonstriert dreimal pro Woche. Weil sie glaubt, die Justizreform werde unter anderem die Rechte und Freiheiten von Frauen beschneiden. Längst wird nicht nur um die Justizreform gestritten. Im Kern geht es um Grundsatzfragen wie: «Wer ist überhaupt Israeli?», «Was bedeutet «jüdisch»? «Kann ein Staat, der sich als jüdisch definiert, gleichzeitig auch demokratisch sein?» Was in Israel passiert, beschreibt Nechumi Yaffe, Forscherin in der ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinschaft und Dozentin an der Tel Aviv University so: «Es ist ein Ringen um die unfassbare Wirklichkeit dessen, was es heisst, jüdisch zu sein und Macht und Souveränität zu haben. Zweitausend Jahre lang wurden wir von anderen beherrscht - jetzt sind wir ein unabhängiges Volk. Das ist eine neue Erfahrung, und als Nation sind wir auf der Suche, wie wir uns definieren wollen." Israel wird in diesem Jahr 75: Eine Reportage über das Ringen um die Seele des jungen Staates.
Sat, 03 Jun 2023 - 423 - Bulgarien: Der «goldene Tümpel» an der EU-Aussengrenze
Der Grenzübergang Kapitan Andreewo zwischen Bulgarien und der Türkei ist das grösste Eingangstor in die EU. Was dort passiert, hat Auswirkungen bis in die Schweiz: etwa darauf, ob wir Früchte mit zu vielen Pestiziden essen. Bulgarien tut sich schwer, es gibt Fälle von Korruption. Kapitan Andreewo ist der grösste Grenzübergang Europas. Jedes Jahr gibt es mehr Verkehr. Lastwagen stauen sich, die Peperoni, Zitronen, Birnen, Mandarinen, Feigen und mehr über diese Grenze bringen, aus der Türkei, aus Asien. Fast alles landet in westeuropäischen Ländern. Jahrelang überliess der bulgarische Staat die Kontrolle von Früchten und Gemüse an der Grenze einer privaten, wohl korrupten Firma. Als die Agentur für Nahrungssicherheit die Kontrollen wieder verstaatlichen wollte, wurden die leitenden Angestellten bedroht. Auch jetzt noch funktionieren die Kontrollen schlecht. Ausserdem nimmt der Schmuggel zu, und über die EU-Grenze kommen aussergewöhnlich viele Geflüchtete. Grenzpolizisten werden angegriffen, Menschen wohl illegal zurück in die Türkei geschickt. Die Unterwelt kann mit der Grenze viel Geld verdienen. Deshalb nennt man den Grenzübergang auch den «goldenen Tümpel». Das ist ein Problem für Europa.
Sat, 27 May 2023 - 422 - «Pro Choice» oder «Pro Life»? Die Abtreibungsfrage in den USA
Im Sommer 2022 hat der Oberste US-Gerichtshof das landesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Seither sind Schwangerschaftsabbrüche in über einem Dutzend Gliedstaaten verboten, in vielen anderen läuft der politische Prozess noch. Das Thema bewegt die Bevölkerung, politisch, juristisch, moralisch. Das Urteil des Supreme Court war ein Sieg für Abtreibungsgegnerinnen und -gegner. Und gleichzeitig «nur» ein erster Schritt. Denn auch wenn Schwangerschaftsabbrüche seither in mehreren US-Bundesstaaten verboten sind, kämpfen sie weiter: Für strengere Regeln, dort, wo sie in ihren Augen zu liberal sind. «Jede Person hat das Recht, geboren zu werden», findet eine Abtreibungsgegnerin aus New York und engagiert sich für ein radikales Abtreibungsverbot in ihrem Bundesstaat. «Wer nicht frei entscheiden kann, ein ungewolltes Kind zu gebären oder abzutreiben, ist auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt», sagt hingegen die Rechtsprofessorin. Sie weist darauf hin, dass durch Abtreibungsverbote vor allem schwarze Frauen benachteiligt werden; junge Frauen, schlechtverdienende Frauen und solche aus ländlichen Gebieten. Das Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigt und bewegt die Menschen in den USA. Das Thema ist zum Politikum geworden, das demokratische Wählerinnen mobilisiert und republikanische spaltet. Und wenn in rund anderthalb Jahren ein neuer Präsident – oder eine neue Präsidentin – gewählt wird, dürfte auch die Abtreibungsfrage im Wahlkampf ein Thema sein.
Sat, 20 May 2023 - 421 - Nigeria – der Fluch des Erdöls
Nigeria ist Afrikas grösster Erdölexporteur. Täglich werden allein im Nigerdelta Millionen Liter Erdöl aus dem Boden gepumpt. Viele versuchen, vom schwarzen Gold zu profitieren, legal oder illegal. Doch die breite Bevölkerung hat nichts davon. Ausser Umweltzerstörung. Und Armut. An der Tankstelle in Port Harcourt stehen sie Schlange. Weil das Benzin fehlt. Ausgerechnet im Erdölland Nigeria. Unmengen des kostbaren Rohstoffs liegen dort unter dem Boden, gefördert von Erdölkonzernen wie etwa Shell. Der Grossteil des Rohöls wird exportiert, weil es in Nigeria selbst noch an legalen, funktionierenden Raffinerien fehlt. Das Erdöl ist eine Goldgrube, Gold, aber eben auch schwarz – schwarzes Gold. Klebrig und hochgiftig. Wer im Nigerdelta wohnt, einer der erdölreichsten Regionen weltweit, riskiert krank zu werden – oder zu sterben. Bauern klagen, dass ihre Felder und das Wasser verseucht seien. Immer wieder kommt es zu Unfällen und Lecks mit weitreichenden Folgen – für Mensch und Umwelt. Der grosse Reichtum in Nigerias Boden lockt viele: da sind die «kleinen Fische», die illegal Erdöl raffinieren; da sind jene, die die Ölpipelines anzapfen und das abgezweigte Öl weiterverkaufen; und schliesslich sind da jene, die in grossem Stil vom lukrativen Erdöl-Diebstahl profitieren.
Sat, 13 May 2023 - 420 - Diyarbakir und die kurdische Identität
Das Kurdenproblem sei gelöst, behauptete der türkische Präsident Erdogan. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er versprochen, kulturelle Vielfalt im türkischen Einheitsstaat zuzulassen. Das weckte Hoffnungen in den kurdischen Gebieten. Die Hoffnungen haben sich zerschlagen. Ergün Ayik sitzt auf einer Bank vor der armenischen Kirche und lässt seinen melancholischen Blick über die neuen Häuser der Umgebung schweifen und sagt. «Das ist nicht mehr Diyarbakir. Sie haben das alte Diyarbakir zerstört». Ayik hat seine Kindheitsjahre in den engen Altstadtgassen verbracht und ist nun zurück zur Feier des Ostergottesdienst in der alten Kirche. Das Gebiet um die Kirche herum war seither Schauplatz eines Kriegs: Kurdische Aufständische hatten sich im Herbst 2015 in den engen Gassen verschanzt, die türkische Armee zögerte nicht, schoss aus Panzern und Helikoptern ins historische Zentrum der südostanatolischen Millionenstadt. Die Kämpfe haben sich verlagert, doch ein Teil der Altstadt ist verschwunden. Nach den Kämpfen folgte eine radikale bauliche Erneuerung, anstelle der engen Gassen prägen nun breite Flaniermeilen mit Cafés und Souvenirshops die östliche Hälfte der Altstadt. «Die Sanierung hat politische Ziele» ist Selma Aslan, die Chefin der Architekturkammer von Diyarbakir überzeugt. Die Altstadt solle ihre Identität verlieren. Vor genau hundert Jahren wurde die moderne Türkei als radikaler Einheitsstaat gegründet. Die damalige kemalistische Elite verfolgte eine strikte Assimilierungspolitik, darin war kein Platz für kurdische Kultur oder Sprache. Erdogan trat anfangs dagegen an. Er versprach Öffnung, suchte sogar den Dialog mit der kurdischen Untergrundorganisation PKK. Doch das Tauwetter war kurzlebig. Längst sprechen wieder die Waffen. Und auch jetzt im Wahlkampf bleibt Erdogan bei seiner nationalistischen Rhetorik. Reportage aus Diyarbakir im Südosten der Türkei.
Sat, 06 May 2023 - 419 - Die Magie der britischen Monarchie
Die Welt wird nach London blicken, wenn Charles III. am 6. Mai in der Westminster Abbey gekrönt wird. Seit Jahrhunderten bildet die Monarchie das Rückgrat des Vereinigten Königreiches. Doch sie hat an Zuspruch verloren, und nicht wenige glauben mittlerweile, dass man sie auch abschaffen könnte. Hinter den Kulissen werden politische Entscheide gefällt, während die Königsfamilie auf der grossen Bühne das Volk glanzvoll und würdig bei Laune hält. So beschrieb der britische Verfassungstheoretiker Walter Bagehot im 19. Jahrhundert die Rolle der Monarchie in der britischen Politik. Doch die Zeiten haben sich verändert, die Vererbung von Titeln und Privilegien sind im 21. Jahrhundert verpönt. Zudem hat das Ansehen der Königsfamilie gelitten, und gerade unter jungen Britinnen und Briten glauben nicht wenige, dass die britische Monarchie mit ihren jahrhundertealten Traditionen und Ritualen ihre Daseinsberechtigung verloren hat. Die Sendung «International - Die Magie der britischen Monarchie» lässt sowohl Royalistinnen als auch Republikaner zu Wort kommen und erörtert die künftige Rolle des neuen König Charles III. sowie die Herausforderungen, die ihn erwarten.
Sat, 29 Apr 2023 - 418 - Südossetien, Georgien und Russland: wenn zwei sich streiten…
übernimmt der Dritte die Kontrolle. In diesem Fall Russland. Das schon in den 1990er Jahren Truppen nach Georgien schickte, um die Separatisten der selbsternannten Republik Südossetien zu schützen. Jahrhundertelang lebten Georgierinnen und Osseten Seite an Seite. Nach dem Fall der Sowjetunion kochten latente Feindseligkeiten hoch, bis zu blutigen Kämpfen zwischen ossetischen Separatisten und georgischen Truppen. Georgiens mächtiger Nachbar Russland stellte sich auf die Seite der Separatisten, und bis heute sind die russischen Soldaten geblieben. Sie erobern im Namen Südossetiens immer mehr georgisches Gebiet. Georgier fürchten, es könnte ihnen wie den Ukrainern ergehen. Im georgischen Dorf Gremiskhevi hat die Bevölkerung Angst. Die Dorfbewohnerinnen klagen über Entführungen durch die russischen Truppen. Ein Trupp georgischer Männer beobachtet, wie russische Soldaten durch den Wald schleichen. Die georgische Dorfbevölkerung traut sich schon gar nicht mehr in die Nähe der Grenzlinie. Diese sei gar nicht richtig markiert, erzählt Tsisana, die erzählt, wie sie selbst entführt worden sei. Ein vernachlässigter Friedhof in Grenznähe zeugt von der Angst der Dorfbewohner, und auch von dem Leid, den der blutige Konflikt auf beiden Seiten hinterlassen hat. Auf der georgischen Seite verdrängen viele ihren Anteil am ethnischen Konflikt, sie geben dafür Russland die Hauptschuld. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sehen sie sich bestätigt: wäre da keine imperialistische Grossmacht, wäre zwischen Osseten und Georgiern ein Frieden möglich. So einfach ist die Wirklichkeit jedoch nicht.
Sat, 22 Apr 2023 - 417 - Italiens schwierige Justizreform
Die italienische Justiz ist chronisch überlastet, nirgendwo sonst in Europa arbeitet die Justiz so langsam wie in Italien. Das frustriert Bürgerinnen und Bürger, schwächt deren Vertrauen in den Staat und schreckt potenzielle Investoren ab. Wegen zu langsamer Justiz wurde Italien schon unzählige Male vom europäischen Menschenrechtshof verurteilt. Mit der EU wurde deshalb eine grossangelegte Justizreform vereinbart. Sie ist Teil des 191 Milliarden Euro schweren Aufbauplans. Die Justiz erhält nur einen Bruchteil der Gesamthilfe, doch werden ihre Ziele nicht erreicht, entfällt das Gesamtpaket. Bis im Jahr 2026 müssen Zivilprozesse um 40 Prozent beschleunigt werden, im Strafrecht um 25 Prozent, die Zahl der hängigen Fälle im Zivilrecht muss um 90 Prozent sinken. Zehn Millionen Gerichtsfälle müssen digitalisiert werden, wobei ein einziger einen ganzen Lieferwagen mit Papierakten füllen kann. Die Umsetzung der Justizreform dürfte Jahre dauern.
Sat, 15 Apr 2023 - 416 - Baskenland: der Terror, die Angst und das grosse Schweigen
Fünf Jahre ist es her, dass die baskische Terrororganisation ETA sich aufgelöst hat. 853 Menschen wurden von ihr getötet. Die Angst, die das Leben der Bevölkerung im Baskenland über Jahrzehnte geprägt hat, wirkt bis heute nach. José Vargas war gerade beim Einkaufen. Aurora Intxausti wollte ihren kleinen Sohn in die Krippe bringen. Der Terror der ETA brach über sie hinein, ohne dass sie ihn hätten kommen sehen – und er prägt ihr Leben bis heute. Die ETA wurde 1959 mit dem Ziel gegründet, ein unabhängiges, sozialistisches Baskenland zu errichten. Die drei Buchstaben stehen für «Euskadi ta Askatasuna», «Baskenland und Freiheit». Die ersten Jahre bediente sich die ETA friedlicher Mittel, doch Ende der 60er-Jahre begann sie zu töten. Zuerst richtete sich ihre Gewalt gegen Polizei, Militär und Funktionäre des Franco-Regimes, was ihr auf internationaler Ebene gewisse Sympathien einbrachte: Die ETA-Kämpferinnen und Kämpfer wurden als romantische, anti-faschistische Guerilleros verherrlicht. Doch nach Ende der Diktatur bedrohten, entführten und mordeten sie noch mehr als drei Jahrzehnte lang weiter. Allein 21 Kinder waren unter ihren Opfern. Im Kampf gegen die ETA beging auch der spanische Staat massive Menschenrechtsverletzungen: Während vier Jahren finanzierte das Innenministerium Todesschwadronen, die insgesamt 27 Menschen exekutierten, ohne jegliche rechtliche Grundlage. Zudem sind tausende Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. In diesem «International» kommen Opfer, Forschende und Angehörige von ETA-Gefangenen zu Wort. Wie kann die baskische Gesellschaft mit dem umgehen, was geschehen ist? Wie kann man über diese Vergangenheit sprechen, um ihrer Brutalität und ihrer Vielschichtigkeit gerecht zu werden?
Sat, 08 Apr 2023 - 415 - Zurück auf Null: Frauen in Afghanistan
Vor gut eineinhalb Jahren haben die Taliban in Afghanistan die Macht zurückerobert. Seitdem haben sie im selbsternannten islamischen Emirat eines der repressivsten Regime weltweit eingeführt. Darunter leiden besonders Mädchen und Frauen. Die Medizinstudentin Husna war im Abschlussexamen, als sie Ende Dezember die Schreckensnachricht erreichte: Ab sofort dürfe sie nicht mehr studieren. Seitdem sitzt die hochbegabte 20-Jährige frustriert und hoffnungslos zu Hause, wie Millionen andere afghanische Frauen. Es war der vorerst letzte Streich der islamisch-fundamentalistischen Taliban im Kampf gegen Frauen und Mädchen. Die Verbotsliste ist seit der Machtübernahme immer länger geworden: Mädchen dürfen ab der siebten Klasse nicht mehr zur Schule, die meisten Frauen nicht mehr arbeiten, nicht mehr die Universität besuchen, nicht mehr für Nichtregierungsorganisationen arbeiten und nicht einmal mehr Parks und Fitnesscenter besuchen. Die wenigen Frauen, die sich wehren oder gar demonstrieren, werden niedergeknüppelt oder ins Gefängnis geworfen. Weil das ein gravierender Verstoss gegen Menschenrechte ist, hat die internationale Gemeinschaft die Reserven der afghanischen Zentralbank eingefroren und Sanktionen verhängt - was die Wirtschaftskrise in Afghanistan massiv verschärft und die Zahl der Hungernden weiter erhöht hat. Während die Taliban-Führung in Kandahar an den strikten Verboten festhält, wird die Kritik an den Bildungsverboten für Frauen bei hohen Offiziellen in Kabul lauter.
Sat, 01 Apr 2023 - 414 - Äthiopien: Die Wunden des Tigray-Krieges heilen nur langsam
Zwei Jahre wurde in der Region Tigray im Norden Äthiopiens gekämpft. Wenig drang in der Zeit nach aussen, die Zentralregierung hatte Telefon und Internet blockiert. Nun sind Reisen nach Tigray wieder möglich. Unser Afrikakorrespondent begegnete erleichterten, aber schwer traumatisierten Menschen. Da ist etwa der junge Aradom, ein schmächtiger Informatiker mit Bart. Er hat für die Tigray gekämpft und erzählt, wie sie Äthiopiens Armee besiegten und den Krieg doch verloren. Er ist traumatisiert, arbeitslos, hängt mit Freunden in einer Bar herum und versucht zu vergessen. Da ist eine Mutter, die von Soldaten vergewaltigt wurde, als sie ihr Eigentum vor Plünderung beschützen wollte. Von ihrem Mann hat sie schon lange nichts mehr gehört, die Kinder werden wohl ohne Vater aufwachsen müssen. Eine alte Frau hat nur ein paar Weizenkörner, die sie ihren hungrigen Enkelkindern zubereiten kann. Während des Krieges war es noch schlimmer, erzählt sie. Hunger und Unterernährung sind ein riesiges Problem. Wir begegnen einem Lehrer, der ohne Lohn versucht, in einer Primarschule wieder zu unterrichten, unter widrigsten Umständen. Er hat leise Hoffnung, dass es wieder einen Alltag geben wird. Und da ist ein führender Kader der alten Garde der TPLF-Rebellen. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, mit der Zentralregierung ein ungünstiges Waffenstillstandsabkommen geschlossen zu haben. Mit dem grausamen Krieg haben die Rebellen nichts gewonnen. Hunderttausende aber haben ihr Leben oder ihre Existenz verloren.
Sat, 25 Mar 2023 - 413 - Korruption beschädigt die Republik Österreich
Vergleichbar einem Wasserschaden habe die Korruption die Substanz des Gebäudes erreicht. Das sagte Österreichs Bundespräsident Van der Bellen und meinte damit den Staat. In den letzten Jahren rollte eine Welle von Skandalen über unser östliches Nachbarland. Was sind die Ursachen und was wäre zu tun? Der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz, der ehemalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache, aber auch diverse Ministerinnen und Minister sind in Affären verwickelt, die Österreich seit Jahren in Atem halten. Die Justiz ermittelt, rechtskräftige Urteile liegen noch keine vor. Doch die Vorwürfe sind massiv und viele sind gut belegt. Über 300'000 Österreicherinnen und Österreicher fordern in einem Volksbegehren endlich konkrete Massnahmen gegen die Korruption. Zum Beispiel ein Ende des strikten Amtsgeheimnisses, die Schaffung einer Bundesanwaltschaft oder ein griffiges Antikorruptionsgesetz. Doch die Beharrungskräfte sind stark und reichen zum Teil weit zurück in die Geschichte Österreichs. Und ausgerechnet jene Partei, die am Anfang der neusten Korruptionswelle stand, die rechtspopulistische FPÖ, legt gemäss allen Umfragen wieder stark zu.
Sat, 18 Mar 2023 - 412 - Amoklauf in Newtown: Aktivismus und Trauma in einer US-Kleinstadt
In Newtown geschah vor zehn Jahren das Unvorstellbare: Ein Amokläufer tötete in einer Schule 26 Menschen, darunter 20 Kinder. Zurück blieben eine traumatisierte Gemeinde - und Eltern, die zu Aktivisten wurden. Da ist etwa Mark Barden. Sein sechsjähriger Sohn wurde damals im Schulhaus erschossen. Bis heute quält Barden der Gedanke, dass sein kleiner Bub einsam und allein sterben musste - weil der Täter so leicht Zugang hatte zu einer tödlichen Waffe. Die Tat hat in den USA eine heftige Debatte über Waffengewalt ausgelöst. Präsident Obama reiste damals nach Newtown, während der rechte Verschwörungstheoretiker Alex Jones behauptete, der Amoklauf habe gar nie stattgefunden. Die Waffengewalt ist derweil zu einer Art Epidemie geworden in den USA: So viele Menschen wie nie zuvor starben 2020 durch Schusswaffen: gut 45 000. Schusswaffen sind bei Kindern inzwischen die häufigste Todesursache. Vater Mark Barden hat nach dem Tod seines Sohnes eine Organisation gegründet, die versucht, Amokläufe zu verhindern. Er engagiert sich vor allem in der Prävention. Schüler:innen und Lehrpersonen sollen Warnzeichen bei potenziellen Tätern erkennen und rechtzeitig Hilfe suchen. Zudem kämpft Barden - wie viele andere Menschen in Newtown - für schärfere Waffengesetze, ein schwieriges Unterfangen, weil Amerikas Konservative den praktisch unbegrenzten Zugang zu Schusswaffen für ein Grundrecht halten. In der Sendung kommen auch zu Wort: Teenager, die als Kinder den Amoklauf von Newtown überlebt haben sowie Matthew Crebbin, ein örtlicher Priester. Er versucht seit dem Amoklauf, den Schmerz in seiner Gemeinde zu lindern.
Sat, 11 Mar 2023 - 411 - Auf eine Currywurst mit den Deutschen
Fleisch gehört zur deutschen Identität. Egal ob Wurst oder Schnitzel, gegessen werden gerne üppige Portionen vor allem billigen Schweinefleischs. Eine hocheffiziente Fleischproduktion und Billiglöhne sorgen für günstigen Nachschub. Doch Ansprüche an Moral und Qualität stellen Omas Rezepte in Frage. «Super, wirklich super» schwärmt Michael Wagner mit vollem Mund von der Currywurst, die er mitten auf einer Kreuzung in Berlin auf die Schnelle isst. Im Imbissstand bereitet Tarek die Würste im Stakkato zu. Viele Deutsche lieben schnelles, billiges Essen und Fleisch gehört einfach dazu. Schon die alten Römer fanden, dass die Germanen keine ausgeprägte Esskultur haben. Das schlichte Essen gehört zur deutschen Identität und Fleisch wurde zum Kulturgut. Seine Verfügbarkeit für alle sorgte einst für politische Stabilität. Landwirte wie Henning Kock produzieren günstiges Schweinefleisch. Im sogenannten «Schweinegürtel», einer Region südwestlich von Bremen, hält er 2600 Tiere. Sie sind genetisch so veranlagt, dass sie sich trotz dauernder Verfügbarkeit von Futter nicht überfressen und rund 900 Gramm pro Tag zulegen. Mit Fleisch verdient auch Alina Henrici ihr Leben. In ihrer Metzgerei in Hessen lädt sie Kinder in die Wurstküche ein, damit diese verstehen, dass die Wurst nicht vom Discounter, sondern vom Tier kommt. Für viele ist Fleisch nicht wegzudenken. Doch nun streicht Freiburg im Breisgau das Fleisch vom Menu der Grundschulen und Kitas. Die Aufregung ist gross.
Sat, 04 Mar 2023 - 410 - Die Gemeinde Molenbeek kämpft gegen ihr Stigma
Molenbeek ist ein Nest von islamistischen Terroristen. Das glaubt die Welt zu wissen. Mit viel Solidarität versuchen die Einwohner der Gemeinde, Molenbeek ein anderes Gesicht zu geben. Die Vorortsgemeinde Molenbeek wird oft als das Manchester von Belgien bezeichnet. Das Stadtbild ist geprägt von reihenweise roten Backsteinfassaden. Molenbeek war einmal ein wichtiger Industriestandort. Darum zogen von überall her Menschen in den Stadtteil im Westen von Brüssel, immer auf der Suche nach Arbeit. Sie kamen aus Spanien, Portugal oder zuletzt aus Marokko - bis die Krise kam. Wer etwas Geld auf die Seite legen konnte, wanderte sodann weiter. Wer zurückblieb, gilt als Absteiger. Heute ist Molenbeek eine Gemeinde mit immer noch überdurchschnittlich vielen Eingewanderten, aber auch mit überdurchschnittlich vielen Menschen, die gegen Armut kämpfen müssen. Wer in diesem Umfeld aufwächst, hat nicht die besten Chancen auf eine erfolgversprechende Karriere. Das ist der ideale Nährboden, auf dem islamistische Extremisten junge Männer für ihren Krieg gegen die westliche Lebensweise rekrutierten. Molenbeek ist seither gleichbedeutend mit Terroristen-Nest. Weil einige Selbstmordattentäter der Anschläge in Paris und Brüssel in den Jahren 2015 und 2016 mit Hunderten Toten in Molenbeek aufwuchsen, vom Weg abkamen und später als Terroristen dank Komplizen hier Unterschlupf fanden. Die Folgen für die Einwohnerinnen und Einwohner sind bis heute verheerend. Die Bevölkerung sieht sich einer doppelten Stigmatisierung gegenüber: Sie werden als Eingewanderte und als potentielle Terroristen abgestempelt. Vor allem viele Jugendliche leiden stark unter diesem Stigma. Die Bereitschaft steigt in jüngster Zeit allerdings wieder, in Molenbeek zu investieren – kulturell, gesellschaftlich, aber auch wirtschaftlich. Langsam bewegt sich etwas in Molenbeek.
Sat, 25 Feb 2023 - 409 - Serbien: Wo Moskau-Treue und Putin-Gegner zusammentreffen
Serbien und Russland sehen sich als Verbündete. Belgrad trägt die westlichen Sanktionen nicht mit, rund 80 Prozent der Bevölkerung sind pro-russisch eingestellt. Gleichzeitig leben aber etwa 200.000 Geflüchtete aus Russland, Belarus und der Ukraine in dem Land – in der Regel Putin-Gegner. Das hat mehrfach dazu geführt, dass prorussische Serben demonstrierend durch Belgrad zogen, während die Anti-Putin Proteste von echten Russen und Russinnen, den Neuankömmlingen nämlich, dominiert werden. Letztere haben sich für Serbien entschieden, weil Belgrad immer noch von Russland angeflogen wird und russische Staatsbürger auch kein Visum für die Einreise benötigen. Sie, die vor der Repression und der Mobilisierung geflohen sind, wundern sich über die seltsame Kreml-Sympathien in Serbien. Tatsächlich nehmen viele in Serbien die russische Propaganda für bare Münze – kein Wunder, berichten doch die regierungsnahen serbischen Medien über den Ukraine-Krieg wie ein verlängerter Arm Moskaus. Doch diese Russland-Liebe ist oberflächlich und hat viel mit der Abneigung gegen die Nato zu tun. Denn es ist nicht vergessen, dass die Nato im Frühling 1999 zahlreiche Städte im heutigen Serbien bombardiert hat, um den Kosovo-Krieg zu beenden. Gleichzeitig will das Land in die EU, und die EU ist auch die Lieblingsdestination aller Serbinnen und Serben, die auf der Suche nach einem besseren Leben das Land verlassen.
Sat, 18 Feb 2023 - 408 - Frostige Zeiten an der Grenze zwischen Finnland und Russland
Finnland will entlang der über 1300 Kilometer langen Grenze zu Russland einen Zaun bauen. Wegen des Kriegs, den Russland mit der Ukraine führt, ist der reguläre Grenzverkehr auch an der Grenze zwischen Russland und Finnland beinahe zum Erliegen gekommen. Der geplante Zaun soll vorerst einmal 130 Kilometer lang werden. Mit einer Höhe von etwa 3 Metern soll er illegale Grenzübertritte weitgehend verhindern. Kostenpunkt 140 Millionen Euro. Die Grenze zu Russland verläuft rund 190 Kilometer östlich der finnischen Hauptstadt Helsinki. In dieser Grenzregion war es schon ohne Zaun sehr ruhig geworden. Denn vor dem Krieg hatte bereits die Corona-Pandemie den Verkehr zwischen den beiden Nachbarn unterbrochen. Mit dem Zaun drohen nun die Verbindungen zwischen Finnland und Russland langfristig gekappt zu werden. Und der Beitritt Finnlands zur Nato stösst in der finnischen Bevölkerung auf grosse Zustimmung.
Sat, 11 Feb 2023 - 407 - Frankreich: Neue Energie für die Atomkraft
Präsident Macron hat eine «Renaissance der Kernenergie» versprochen. Er knüpft damit in Zeiten der Stromknappheit an französische Zukunftsvisionen des letzten Jahrhunderts an.Kann so die Versorgungskrise entschärft werden? Die Luft flirrt, an manchen Stellen vibriert im AKW von Paluel der Boden. Die Produktionshalle ist so gross wie ein Fussballfeld. «Spüren Sie schon die Hitze?», fragt Werksdirektor Jean-Marie Boursier. Die Turbine sei so stark, dass sie vierhundert Hochgeschwindigkeitszüge anschieben könnte, ergänzt er. Aus dem Werksdirektor spricht der Stolz einer ganzen französischen Ingenieurselite. Seit den Sechzigerjahren setzte Frankreich konsequent auf die Atomkraft. Diese «Kernkompetenz» werde dem Land die Unabhängigkeit sichern, versprach General de Gaulle, Weltkriegsheld und prägende politische Figur der französischen Nachkriegspolitik. Unter seiner Führung wurde die «Grande Nation» nicht nur zur militärischen Nuklearmacht, sie begann auch in grossem Stil in Atomkraftwerke für die Stromerzeugung zu investieren. Der Reaktorenpark ist in die Jahre gekommen. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima galt er zwischenzeitlich als Auslaufmodell, das Interesse der Jugend an einer Karriere im Nuklearsektor schwand. Das älteste der Kraftwerke, jenes von Fessenheim, wurde abgeschaltet. Doch in Zeiten der Energieknappheit treten die Bedenken in den Hintergrund, Präsident Macron beruft sich wieder explizit auf die damalige Vision des Generals. Die Laufzeiten sollen verlängert und sechs neue Atomkraftwerke gebaut werden. Macron verspricht, so gleichzeitig die Versorgungskrise zu entschärfen, das Klima zu schützen und Arbeitsplätze zu sichern. Eine kontroverse Debatte um die Atomkraft findet nicht statt. Bis die neuen Kraftwerke tatsächlich ans Netz gehen, werden allerdings noch Jahre vergehen. Frankreich will unterdessen auch massiv in die erneuerbaren Energien investieren, um seinen Rückstand im europäischen Vergleich aufzuholen. «Wenn die Versorgungskrise etwas Gutes hat, dann dass es mit der Energiesicherung jetzt an beiden Fronten endlich vorangeht», meint Unternehmer Patrice Gault in seinem AKW-Zulieferbetrieb in Dieppe am Ärmelkanal – in der Reportage über Frankreichs Energiepolitik.
Sat, 04 Feb 2023 - 406 - Odysseen ohne Sinn: Italiens widersprüchliche Migrationspolitik
Mit grossem Aufwand setzt Italien Migranten und Flüchtlinge auf Lampedusa fest, bringt sie dann in sogenannte Hotspots und lässt sie am Schluss einfach laufen. Dabei ist Italien auf Zuwanderung angewiesen. Aber eine kohärente Migrationspolitik fehlt. Italien hat weniger Asylbewerber pro Kopf als die Schweiz. Trotzdem führt die rechtskonservative Regierung von Giorgia Meloni einen symbolischen Kampf gegen private Seenotretter, um die eigenen Anhänger zu befriedigen. An die Wurzeln des Problems wagt sich keine italienische Regierung. Seit 2013 haben mehr Italienerinnen und Italiener ihr Land verlassen, als Flüchtlinge oder Migrantinnen zugewandert sind. Vor allem gut ausgebildete Junge gehen ins Ausland. Italien ist das Land mit der drittältesten Bevölkerung der Welt. Es braucht Zuwanderung und dringend Fachkräfte. Der Ukrainekrieg hat weltweit eine neue Migrations- und Flüchtlingswelle verursacht. Doch wirklich gelernt hat man in Europa aus der letzten grossen Krise 2015 nicht.
Sat, 28 Jan 2023 - 405 - Der Schmerz des Verlustes – das Erbe der Griechen aus Kleinasien
Vor hundert Jahren besiegelte ein Vertrag das Ende des Griechentums in Kleinasien. Etwa 1,5 Millionen Griechinnen und Griechen mussten ihre Heimat verlassen. Die Flüchtlinge waren in Griechenland wenig willkommen. Ihre Nachkommen kämpfen gegen das Vergessen und pflegen bis heute alte Traditionen. «Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland» wird die gewaltsame Umsiedlung im in Lausanne geschlossenen Vertrag von 1923 genannt. Dieser besiegelte nicht nur die Vertreibung der Griechen und Griechinnen aus Kleinasien, sondern auch diejenige von 400 000 Muslimen aus Griechenland. Das bedeutete Entwurzelung, Verlust und Schmerz. Nicht alle fanden in ihrer neuen Heimat Griechenland Anschluss. Viele waren im Osmanischen Reich privilegiert gewesen und mussten ganz neu anfangen, am Rande der Gesellschaft. Sie brachten ihre Traditionen, Speisen und Musik mit, die die Nachfahren der Flüchtlinge noch heute pflegen. So unterrichtet etwa der 57-jährige Giorgos Sarafidis in einem Athener Vorort, in dem sich damals viele der Vertriebenen niedergelassen hatten, pontische Tänze. Die Strassen des Viertels tragen bis heute Namen der Schwarzmeer-Region. Oder da ist Marilena Manika, der die Vertreibungsgeschichte ihrer Grosseltern so präsent ist, dass ihr scheint, als hätte sie die damalige Flucht durchgemacht. Sie alle wünschen sich, dass der Anteil der damaligen Neuankömmlinge an der griechischen Kultur anerkannt wird und ihre Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.
Sat, 21 Jan 2023 - 404 - Libanon – «Warum machen sie uns zu Kriminellen?»
Kaum volljährig geworden, merkte die libanesische Nachkriegsgeneration, dass etwas in ihrem Staat faul war. Als sie 2015 auf die Strasse ging, um gegen die korrupte Machtelite zu demonstrieren, war es jedoch bereits zu spät. Der Staat war bankrott. Im kleinen Mittelmeerstaat kämpfen inzwischen viele um ihre Existenz. Selbst die einstige Mittelschicht ist betroffen. Seit drei Jahren darf sie ihr Geld auf der Bank nicht holen. Und wegen der horrenden Inflation reichen ihre Saläre nicht mehr zum Überleben. Die Not treibt manche in die Kriminalität. Sally Hafez, 28, stammt aus einer Mittelstandsfamilie in Beirut. Sie hatte einen guten Job, Geld für Kleider, Reisen und ein Auto. Gleichzeitig dauerten die täglichen Stromausfälle in Beirut immer länger, das Trinkwasser war verschmutzt, der Abfall stapelte sich in den Strassen. Die junge Libanesin begann, wie viele ihrer Generation, Fragen zu stellen, und einen Systemwechsel zu fordern. Als die Korruption aufflog und das ganze System wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, schuf die politische Elite Milliarden ausser Landes. Gleichzeitig beschränkte sie Bankenbezüge fürs Volk auf einen lächerlich kleinen Betrag. Als ihre krebskranke Schwester eine lebensrettende Operation brauchte, wollte Sally Hafez dafür Geld von ihrem Sparkonto abheben. Die Bank weigerte sich, ihr das Geld zu geben. Eines Tages überfiel die junge Frau ihre Quartierbank, um das Geld für ihre Schwester zu holen. Eine Überlebensgeschichte aus einem gescheiterten Staat. In dem selbst Anwältinnen und Richter verarmen.
Sat, 14 Jan 2023 - 403 - Buddha, Blogs und Brain-Drain – das Königreich Bhutan
Das kleine abgeschiedene Land ist international bekannt für sein in der Verfassung verankertes «Brutto-National-Glück». Doch: Vielen Menschen reicht das nicht, sie suchen ihr Glück im Ausland. Zweieinhalb Jahre hatte Bhutan wegen der Corona-Pandemie seine Grenzen geschlossen. Obwohl das mittelasiatische Land auch vom Tourismus abhängig ist, lag die Branche komplett brach. Schon zuvor hatte die Regierung mit hohen Preisen dem Massentourismus Einhalt geboten; es waren vor allem reiche Ausländer, die am östlichsten Rand des Himalayas Ruhe und Glück suchten. Sei es gegen Covid-19 oder gegen Umweltzerstörung: das Königreich versucht sich zu schützen. Dennoch verlassen immer mehr gut ausgebildete junge Leute ihre Heimat und suchen eine bessere Zukunft - vor allem in Australien. Dabei steht Bhutan derzeit vor der großen Herausforderung, ob es die hochgesteckten Ziele einhalten kann.
Sat, 07 Jan 2023
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